Kapitel 75: zu viel leben

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Heute war es nun so weit. Der letzte Tag vor den Weihnachtsferien. Direkt nach der Schule würden wir dann endlich in die Freiheit entlassen werden, zumindest auf Zeit.

Zwar freute ich mich natürlich auf Weihnachten und auf die Zeit mit der Familie, aber gerade wie ich hier so in der letzten Mathestunde saß und darauf wartete, dass endlich der befreiende Gong ertönen und die lang ersehnten Ferien einläuten würde, aber dass meine Freunde alle nicht wussten, wie sie vor mir über Jonas und seinen anstehenden Besuch reden sollten, ging mir schon ein wenig auf die Nerven.

Natürlich wusste ich, dass Jonas über die Feiertage nach Hause kommen würde, doch trotzdem stoppten meine Freunde jedes Mal, wenn ich zu der Gruppe dazukam ihre euphorischen und vorfreudigen Reden und nachdem es ein paar Momente der bedrückten Stille gegeben hatte, wechselten sie das Thema zu irgendetwas Banalem, bevor nach und nach alle irgendwie verschwanden und ich letztendlich wieder alleine da stand. Ich fühlte mich scheußlich, dass ich jetzt auch noch meinen Freunden die Vorfreude kaputt machte und außerdem wollte ich ihnen irgendwie sagen, dass sie ruhig von Jonas reden könnten, ohne, dass ich ihnen den Kopf abreißen würde, wusste aber irgendwie nicht, wie.

Dann endlich ertönte die langersehnte Klingel und entließ uns in die Ferien. In Windeseile packten alle Schüler ihre Mathesachen zusammen und flüchteten geradewegs in die Freiheit.

Auch ich sah zu, dass ich so schnell wie möglich hier weg kam. Zwar würde es jetzt noch einige Zeit dauern, bis ich zuhause war, weil ich selbst in dieser widerlichen Kälte noch jeden Morgen zur Schule und jeden Mittag wieder nach Hause laufen musste. Aber das würde ja nun erstmal für zwei Wochen nicht so sein und dann würde ich Ende Januar auch endlich Geburtstag haben und 18 werden, was hieß, dass ich Auto fahren konnte. Endlich!

Auf dem Nachhauseweg konnte ich eigentlich nur an eines denken. An Jonas, der heute Abend irgendwann mit dem Zug hier ankommen würde. Und wie alle meine Freunde freudig am Bahnsteig stehen würden, um ihn zu empfangen, außer ich natürlich. Wie ich mich kannte, würde ich wahrscheinlich zuhause alleine in meinem Bett liegen, Pizza essen oder womöglich einfach schon schlafen, damit ich nicht weiter daran dachte. Oh man, mein Leben war echt erbärmlich geworden.

Doch als ich endlich zuhause angekommen war und gerade damit beginnen wollte, Trübsal zu blasen, bot sich mir die perfekte Gelegenheit. Mein Handy verband sich automatisch mit dem Wlan, als ich durch die Haustür in den Flur hereintrat und augenblicklich erklang häufig hintereinander immer der selbe Benachrichtigungston, von dem ich schon gar nicht mehr gewusst hatte, wie er klang. Für gewöhnlich hatte ich mein Handy schon seit ich überhaupt eins besaß, immer auf stumm. Wirklich immer. Deswegen wunderte es mich auch so sehr, dass jetzt nun auf einmal der Benachrichtigungston erklang.

Verblüfft kramte ich mein Handy aus der Jackentasche, wo ich es verstaut hatte, damit es bei diesen Temperaturen nicht unterkühlte, während ich auf dem Nachhauseweg Musik hörte. Denn ohne Musik in meinen Ohren würde ich es wahrscheinlich längst nicht mehr aushalten jeden Morgen und jeden Mittag zur Schule, oder eben wieder zurück, zu laufen.

Toms Bruder Anton hatte mal wieder in die WhatsAppgruppe für seine ziemlich regelmäßig stattfindenden Hauspartys geschrieben. Diese Gruppe war zwar so ziemlich das Unnötigste der Welt, da im Endeffekt sowieso viel mehr Leute kamen, als die, die in der Gruppe waren, aber zumindest wusste dann immer jeder, wann die nächste sein würde.

Ich öffnete den Chat und scrollte all die Zusagen, die schon angekommen waren nach oben, um herauszufinden, wann das ganze Spektakel denn überhaupt stattfinden sollte.

23. Dezember. Ich zuckte die Schultern, klang gut für mich. Noch einmal schön besaufen, um dann Heiligabend mit Kater in der Kirche und bei der Bescherung zu sterben. Ich sah mich ja jetzt schon über der Toilette hängen, wie ich den gesamten Weihnachtsbraten wieder auskotzte. Also genau das, was man sich von einem perfekten Weihnachten erhoffte. Ohne überhaupt irgendetwas mit meinen Freunden, Felix oder meiner Mutter abzuklären, sagte ich also direkt zu. Das schien zu hundert Prozent das zu sein, was ich gerade brauchte. Ein bisschen zu viel leben, ein bisschen zu wenig Gedanken und viel zu viel Alkohol.

„Hey Miamaus, wie war der letzte Schultag?", fragte meine Mutter, die mich eben gerade durch die Tür hatte kommen sehen.

Der letzte SommerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt