Am nächsten Morgen hatte ich wieder vor, laufen zu gehen. Ich war mir sicher, dass ich ein hartes Pensum an den Tag legen musste, wenn ich mit Jonas mithalten wollte, der das ganze Wochenende quasi durchgehend Sport gemacht hatte und nun auch weiter hart trainierte, weil er sich auf das anstrengende Training vorbereiten musste, das ihn in seinem komischen Fußballinternat erwarten würde. Wahrscheinlich war dieses Internat nichtmal komisch, aber begeistert von der Idee, dass Jonas das ganze letzte Schuljahr nicht da sein würde und man sich danach wahrscheinlich eh aus den Augen verlieren würde, weil nach dem Abi alles auseinander läuft, jeder in eine andere Stadt zieht, um irgendwas anderes zu machen, war ich nicht gerade.
Einige würden vielleicht sogar ins Ausland gehen. Nur ein paar wenige würden hier bleiben und bei den Eltern wohnen, bis sie vergammelten oder an der örtlichen Uni studieren. Es gab so viele verschiedene Möglichkeiten und dass sich irgendwelche Wege kreuzen würden, war ungefähr so unwahrscheinlich wie ein Sechser im Lotto. Egal wie gut eine Freundschaft all die Jahre über war, nach dem Abi würde sie zerbrechen, weil die Lebensweisen, die Einstellungen und die Charakter der Menschen einfach immer unterschiedlicher werden würden, mit jedem Tag, den man sich nicht sieht und an dem jeder andere Erfahrungen mit dem Leben macht.
Dass Jonas jetzt schon ein Jahr früher gehen würde, nahm mich schon recht mit, auch, wenn ich es wahrscheinlich niemals zugegeben hätte. Wie viele Dinge würde er verpassen? Es fing schon bei einfachen Sachen wie langweiligen Unterrichtsstunden an. Wenn wir ihn nicht mehr jeden Tag sehen würden, wenn wir kein gemeinsames Leben hätten, würden wir uns voneinander entfernen, wüssten nicht mehr, worüber wir uns mit ihm unterhalten sollten. Ich war mir da ganz sicher. Aber jetzt sollte ich besser in der Gegenwart leben, als mir Sorgen um die Zukunft zu machen. Wir hatten schließlich noch knapp sechs Wochen.
Heute Abend würde Toms älterer Bruder Anton diese Party schmeißen, von der Tom schon seit ein paar Wochen redete. Sie sollte sozusagen eine Willkommensparty für die langersehnten Sommerferien sein. Auch wenn viele ihrer Gäste wahrscheinlich schon längst nicht mehr zur Schule gingen.
Ich würde später zu Greta gehen und mich mit ihr zusammen fertig machen, denn Lina bewanderte noch immer mit ihrem Vater und dessen Familie die österreichischen Alpen. Ich hatte auch Felix gefragt, ob er mitkommen wollte, doch er schüttelte nur müde den Kopf, bevor ich mich auf den Weg zu Greta machte.
Sich auf einen harmlosen, netten Abend zu freuen, wäre sicherlich so falsch gewesen wie an Weihnachten den Osterhasen zu erwarten. Die Partys, die bei Anton und Tom zuhause geschmissen wurden, hatten so viel Unschuld an sich wie die dienstälteste Prostituierte eines Puffs. In die Luxusvilla der Breuningers kamen wildfremde Menschen, die scharf darauf waren sich umsonst zu betrinken, zu tanzen und vielleicht ein paar lustige Partyspiele zu spielen. Was nicht bedeutete, dass ich mich nicht freute, ganz im Gegenteil. Manchmal machte es richtig Spaß sich mal eine Nacht lang zu "verkleiden" und ein bisschen die Sorgen zu vergessen oder generell das ganze normale Leben. Natürlich verkleidete ich mich nicht wirklich, doch in dem bauchfreien Top aus weißer Spitze, das ich mir angezogen hatte, würde ich mich normalerweise nicht unter Leute trauen, doch auf diesen Partys würde ich in einem einfachen T-Shirt ziemlich schief angeguckt werden. Nicht, dass es mich interessiert hätte, aber wann bekam schon mal die Gelegenheit sich so anzuziehen? Dort lief man einfach ein bisschen nuttig rum, es gehörte quasi schon zum Dresscode.
Was außerdem zu diesen Partys gehörte, war, dass Tom während des Abends meistens an die zwanzig Nervenzusammenbrüche pro Stunde bekam, weil er Angst um alles hatte, das kaputt gehen könnte und an diesen Abenden sowieso ständig mit der Furcht lebte, dass das Haus in Flammen aufging oder in die Luft gesprengt würde.
Das war einer der Gründe, warum wir zu diesen Partys gingen. Tom. Er brauchte jemanden, der ihn beruhigte, wenn er eine seiner Panikattacken bekam. Zum Glück hatte dies in letzter Zeit aber nachgelassen und er war entspannter, gerade wenn er Alkohol getrunken hatte.
"Und wie seh' ich aus?", fragte Greta mich stolz, als sie sich ihren roten Lippenstift über die Lippen gezogen hatte und sich nun zufrieden im Spiegel ansah. Sie trug ein Kleid, das kurz genug war, um heiß auszusehen, aber lang genug war, um nicht billig rüberzukommen. Man konnte sich also vorstellen, dass Greta mit ihren langen braunen Haaren, die sie zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammengebunden hatte und dem roten Lippenstift einfach hammermäßig aussah.
"Die Jungs werden Augen machen.", grinste ich in ihre Richtung.
"Hör' mir bloß mit denen auf. Ich zieh mich doch nicht so an, um irgendwem zu gefallen außer mir selbst.", antwortete sie. Irgendwie hatte ich das Gefühl, sie hatte seit dem Abiball auf magische Art und Weise an Selbstbewusstsein gewonnen. Nicht, dass sie vorher keins gehabt hätte, sie hatte sich selbst nur oft hintenangestellt, damit sie es allen anderen recht machen konnte. Keine Ahnung, was nun mit ihr passiert war.
Da Greta nicht weit von Tom entfernt wohnte, konnten wir zu ihm laufen. Wir spürten den Bass der Musik schon Straßen vorher, bevor wir überhaupt irgendwas hörten, geschweige denn sehen konnten. Das Anwesen der Breuningers war hell erleuchtet und voller junger, partylustiger Leute. Viele hielten Plastikbecher in den Händen, die wahrscheinlich mit irgendeiner alkoholischen Flüssigkeit gefüllt waren. Einige tanzten um den Pool herum, andere unterhielten sich, so gut es ging, und wieder andere verbrachten ihre Zeit damit, sich gegenseitig ihre Zungen in den Hals zu stecken.
Greta und ich beschlossen, erst einmal Tom zu suchen, um sicherzustellen, dass er noch keinen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. Als wir ihn fanden, schien er jedoch alles andere als gestresst zu sein, sondern sah ziemlich entspannt aus. Glücklich begrüßte er Greta und mich und fragte, ob wir Jonas und Leo irgendwo gesehen hätten.
"Ne, keine Ahnung, wo die sind.", antwortete Greta.
"Sind vielleicht noch nicht da.", fügte ich schreiend hinzu, weil man mich sonst durch die laute Musik nicht verstanden hätte.
"Hey!", tönte es nun auf uns zu und es dauerte einen kurzen Moment, bis ich Leo erkannte.
"Habt ihr uns schon vermisst?", kam Jonas, nun wie Leo eben gerade ins Bild gesprungen und begrüßte uns mit einem verschmitzten Lächeln.
"Würden wir sie jemals vermissen?", warf ich mit ironischen Unterton einen zweifelnden Blick zu Greta, die neben mir stand und sich über die Ankunft unserer Freunde ebenso zu freuen schien wie ich.
Schlagartig verwandelte sich ihr fröhliches Grinsen in einen bedauerlichen Gesichtsausdruck und ein Kopfschütteln. "Nein.", sagte sie trocken.
Leo griff sich theatralisch an die linke Brust und sah zu Jonas: "Spürst du den Schmerz, Bruder?"
"Ganz tief in mir.", antwortete dieser nicht weniger leidend.
"Mit was für Memmen bin ich denn befreundet?!", gab Tom gespielt entsetzt von sich.
"Na hör mal! Dir wurde eben gerade nicht das Herz gebrochen!", gab Leo mit der gleichen gespielten Entsetzung von sich.
"Wollen wir nicht lieber tanzen gehen?", fragte Greta nun.
"Wenn ich den ersten Tanz bekomme?", lachte Tom in ihre Richtung.
"Aber natürlich, Herr Gastgeber.", Greta machte eine ausladende Bewegung, der sie einen Knicks hinzufügte. Tom verbeugte sich, nahm ihre Hand und zog sie daran in die tanzende Menge.
Natürlich, jetzt musste meine einzige übriggebliebene Freundin mich auch noch mit diesen beiden Vollidioten alleine lassen. Das Leben war schon manchmal hart.
Entschlossen, dass weder Jonas noch Leo mich auffordern würde, nahm ich den einen an die eine und den anderen an die andere Seite und zog sie mit mir auf die Tanzfläche.
DU LIEST GERADE
Der letzte Sommer
Roman pour Adolescents"Du bist so wunderschön, wenn du glücklich bist.", hatte er gesagt und dabei in die Ferne geguckt. So, als würde er garnicht mit mir reden, sondern mit dem Universum, dem Himmel oder der ganzen restlichen Welt. Für Mia und ihre Freunde steht das le...