Kapitel 68: Mut

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Montag, der erste Tag nach den Herbstferien war gekommen. Heute war ich wahrscheinlich das erste Mal in den letzten Monaten froh darüber, dass Jonas in seinem Internat, 500 Kilometer von hier entfernt zur Schule ging und wir damit nicht mehr in eine Klasse. Jetzt mit ihm im Unterricht zu sitzen, hätte ich wahrscheinlich nicht ausgehalten.

Die Übernachtungsparty mit Lina und Greta hatte mich zwar aus meinem Loch rausgeholt und dafür gesorgt, dass ich endlich duschen gegangen und gestern sogar aufgestanden war und mir vernünftige Klamotten angezogen hatte, aber meine Gedanken kreisten auch heute beim Frühstück, so wie die ganzen letzten Tage schon, nur um Jonas oder viel mehr darum, wie ich mich ihm am besten erklären konnte und wie ich es überhaupt schaffen sollte, mit ihm zu reden. Natürlich konnte ich ihn anrufen, aber erstmal würde er mich höchstwahrscheinlich eh wegdrücken und außerdem fand ich es auch ziemlich unpersönlich meine Entschuldigung übers Telefon zu regeln. Doch das nächste Mal, dass Jonas zu Besuch kommen würde, waren die Weihnachtsferien und die waren noch Ewigkeiten hin. Ich war ziemlich sicher, dass ich es nicht bis dahin ohne ihn aushalten würde, er fehlte mir schließlich jetzt schon, und noch sicherer war ich mir, dass ich nicht zwei Monate mit diesem Ballast rumschleppen konnte, dass ich ihn derartig verletzt hatte und dass ich mich noch immer nicht bei ihm entschuldigt hatte.

Lustlos und in Gedanken versunken saß ich in der Küche und rührte in meinem Müsli herum, während meine Mutter um mich herumwirrte, die gerade Bens Pausenbrot schmierte. Mein kleiner Bruder war wohl noch oben und zog sich an. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es für mich langsam Zeit war, loszugehen, wenn ich nicht zu spät kommen wollte. Da ich immer noch kein neues Fahrrad hatte und weder meine Mutter noch Felix Lust hatten mich jeden Tag zur Schule zu fahren und es auch keinen Bus gab, musste ich noch immer laufen.

Nachdem ich schnell meine Zähne geputzt hatte, zog ich mir in Windeseile Schuhe und Jacke an, griff nach meiner Schultasche, verabschiedete mich noch schnell von Ben und meiner Mutter und stöpselte mir die Kopfhörer ins Ohr.

Den gesamten Weg von mir nach Hause bis zur Schule dachte ich weiter nach, genau so wie in der Schule und auf dem Nachhauseweg. Nach drei Tagen des quasi ununterbrochenen Nachdenkens dachte ich, endlich die passenden Worte gefunden zu haben und traute mich. Mein Handy, vor dem ich mich im Schneidersitz auf dem Boden in meinem Zimmer positioniert hatte, schien mich herausfordernd anzulächeln. Wir beide verharrten mindestens schon eine halbe Stunde in dieser Position, bevor ich mir endlich ein Herz fasste und es in die Hand nahm.

Meine Hand zitterte, als ich es entsperrte und sie zitterte weiter als ich mit meinen von kaltem Angstschweiß übermannten Finger über die Kontaktliste strich, bis ich Jonas' Namen fand. Das Zittern wurde schlimmer, als ich auf den Telefonhörer tippte und als das erste Tuten erkland, hätte ich am liebsten gleich wieder aufgelegt vor Aufregung.

Heute war MIttwoch und normalerweise hatte Jonas bis sechs Uhr abends Training und mittlerweile musst es schon kurz nach sieben sein, weswegen ich davon ausging, dass er auf seinem Zimmer war.

Es tutete einmal. Und noch einmal. Und noch einmal und irgendwann hatte ich schon fast die Hoffnung aufgegeben. Doch dann ging doch noch jemand ran. Augenblicklich fühlte es sich so an, als würde mein Herz aufhören zu schlagen und ich wartete einen scheinbar unendlichen Moment darauf, dass sich Jonas' Stimme am anderen Ende der Leitung meldete. Aber das tat sie nicht. Ganz im Gegenteil.

Stattdessen war es eine weibliche Stimme, die sich neugierig klingend zu erkennen gab. "Hallo, am Handy von Jonas hier. Wer ist denn da?", fragte sie wissbegierig. Sofort hatte ich das Gefühl, mir würde irgendetwas die Kehle zuschnüren und somit die Luft zum Atmen nehmen. Ich wollte antworten. Ich wollte wirklich irgendetwas antworten, aber ich brachte einfach kein Wort heraus.

"Hallo? Wer ist denn da?", wiederholte sie ihre Frage.

"Mit wem redest du denn da?", hörte ich nun Jonas' Stimme gedämpft im Hintergrund. Und dann legte ich auf. Ich legte einfach auf.

Da hatte ich also doch Recht gehabt, ich hatte es doch gewusst. Und ich Trottel hatte mich so verdammt schlecht gefühlt und mir die ganze Zeit Gedanken gemacht, wie ich mich bei ihm entschuldigen konnte. Aber so wie es aussah, hatte Jonas mich ja schnell vergessen. So viel zu ich war ihm wichtig, pff. Das hatte sich ja wohl gezeigt, wie wichtig ich ihm war.

Aber schön, was er konnte, konnte ich schon lange. Entschlossen griff ich wieder nach meinem Handy, denn mir war ein genialer Einfall gekommen. Sogleich hatte ich den Chat unserer Freundesgruppe geöffnet und fragte nach Plänen fürs Wochenende. Natürlich extra, damit Jonas es auch ja mitbekam. Der Junge sollte bloß nicht denken, wir hätten hier kein Leben mehr ohne ihn. Schließlich war er es, der sich mit irgendwelchen Mädchen rumtrieb.

In Gedanken stellte ich jetzt schon mein Outfit für die bevorstehende Partynacht zusammen. Ganz eventuell dachte ich an das heißeste Top, das mein Kleiderschrank zu bieten hatte. Ich würde schon dafür sorgen, dass an diesem Bilder gemacht wurden, die Jonas zu sehen bekommen würde. Gut, vielleicht war das nicht ganz die feine englische Art, aber wen interessierte das schon. Mich auf jeden Fall, denn das einzige, was mir gerade wichtig war, war, dass Jonas klar wurde, dass ich nicht alles mit mir machen lassen würde und dass ich ihm garantiert keine Träne nachweinen würde, wenn er das auch nicht tat.

Oh Gott, wie bereit war ich aber generell für diese Partynacht? Mal wieder so richtig ausgelassen tanzen, eventuell ein bisschen zu viel Alkohol trinken, vielleicht sogar ein bisschen mit irgendeinem Typen rummachen...

Okay nein, das ging nun wirklich ein bisschen zu weit. Wir wollten ja nicht gleich übertreiben. Große Lust dazu hatte ich nun auch nicht wirklich, eigentlich absolut gar nicht, um ehrlich zu sein. Aber theoretisch würde mich nichts davon abhalten. Ich konnte alles tun, was ich wollte. Ich war jung, frei, single und hatte bis auf die Schule keinerlei Verpflichtungen und noch dazu sah ich auch nicht ganz furchtbar hässlich aus.

Der letzte SommerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt