Kapitel 83: Mia

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Es war Jonas deutlich anzusehen, dass er klären wollte, was da zwischen uns vorgefallen war. Immer wieder konnte ich aus dem Augenwinkel beobachten, wie er zu etwas anzusetzen schien, doch dann gleich seinen Mund wieder schloss. So, als würden ihm die Worte fehlen und er irgendwie nicht wüsste, was zu sagen war.

Ich für meinen Teil war ziemlich erleichtert, dass wir nicht über den ganzen Müll redeten, der passiert war. Natürlich konnten wir nicht ewig schweigen und irgendwann würde wohl oder übel der Moment kommen, an dem wir uns aussprechen mussten. Alleine schon unseres Freundeskreises wegen. Ich wollte nicht länger der Grund sein, dass diese bedingungslose Unbeschwertheit, die sonst so gut wie immer in der Luft gelegen hatte, wenn wir alle zusammen waren, nicht wieder zurückkommen würde.

Doch für heute hatte es gereicht, dass ich Jonas überhaupt wiedergesehen hatte. Das war schon genug für meine Nerven gewesen, wenn nicht sogar mehr, als sie eigentlich vertrugen. Jonas war wahrscheinlich eh betrunken, weshalb ein Gespräch zwischen uns heute Abend sowieso keinen großen en Sinn gehabt hätte. Ich musste jedoch zusehen, dass, sobald wir zurück bei Tom waren, ich erstmal an Alkohol kam. Irgendetwas, das mir die Kehle wegbrannte, hatte ich nun gerade wirklich mehr als bitter nötig.

Jonas war normalerweise kein Fan davon sich vor wichtigen Sachen zu drücken und normalerweise war ich auch eher die Art Mensch, die Probleme direkt ansprach, um sie so schnell wie möglich zu beseitigen. Aber das hier war irgendwie anders. Irgendwie komplizierter. Ich würde das nicht ewig von mir fernhalten können, aber für heute Abend wollte ich diese scheinbare Normalität, die teilweise zwischen Jonas und mir noch zu existieren schien, behalten.

„Wie ist die Schule so?", fragte Jonas mich nun riss mich damit aus den Gedanken. Scheinbar hatte er es mittlerweile aufgegeben die richtigen Worte zu suchen, um eine vernünftige Konversation anzufangen und sich nun dazu entschieden, einfach auch auf Smalltalk umzustellen.

Ich zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Wie immer irgendwie. Du fehlst.", hörte ich mich automatisch sagen, obwohl ich das letzte ganz sicher nicht beabsichtigt hatte. Am liebsten hätte ich mir augenblicklich die Hand auf die Lippen geschlagen und wäre im Boden versunken. Konnte ich nicht einmal meinen Mund halten?

Doch Jonas sah mich weder komisch von der Seite an, noch lachte er mich aus. Für einen kurzen Augenblick hatte ich die Hoffnung, dass er es gar nicht gehört hatte. Doch als ich einen unauffälligen Blick in seine Richtung riskierte, verriet ihn das Funkeln in seinen so blauen Augen und dieses unterschwellige kleine Lächeln auf seinen Lippen. Unwillkürlich schlich sich auch in mein Gesicht ein kurzes Grinsen, doch es verschwand gleich wieder. Fast so, als wäre es nur ein Hauch gewesen.

„Ich wusste doch, dass ich so unverzichtbar bin.", begann Jonas nun zu scherzen, woraufhin ich ihm meinen Ellbogen die Seite rammte. „Jetzt bild' dir mal nicht zu viel ein, mein Lieber.", bräuchte ich automatisch über die Lippen und fügte noch ein: „So unverzichtbar bist du jetzt auch nicht."

„Ach, nicht?", schmollte er. Ich musste automatisch anfangen zu lachen. Es tat einfach so unheimlich gut, einmal zu vergessen, was da gewesen war und was noch immer zwischen uns stand. Dass wir eigentlich nicht mehr miteinander klarkamen. Aber gerade spielte das alles keine Rolle und wir waren einfach nur Jonas und Mia. Fast schon so, wie man uns normalerweise kannte. Gekannt hatte.

„Da wären wir, Fräulein.", eskortierte Jonas scherzhaft und öffnete schwungvoll das Gartentor, das in Toms Garten führte. Keine Ahnung, warum wir nicht einfach durch die Haustür wieder herein gingen, sondern den Eingang durch den Garten verwendeten.

Ich sah mich um. Wahrscheinlich lag es nur daran, dass es dunkel war, doch jetzt im Winter kam mir der sonst so vertraute Garten von Toms Eltern so fremd vor. Nicht nur der Pool, der im Sommer auch in der Dunkelheit noch den Garten aufhellte, war jetzt für die kalte Jahreszeit geleert worden. Auch der sonst so gehegte und gepflegte Rasen, war von einer Schneedecke bedeckt. Ich blickte mich um und drehte meinen Kopf nach hinten  zu Jonas, der noch immer am Gartentor stand und irgendetwas beobachtete.

„Was guckst du so?", fragte ich leicht vergnügt und lächelte schon fast. Als ich Jonas da stehen sah, in dem ziemlich bedürftigen Licht, das von drinnen hier raus schien, fühlte es sich fast so an, als wäre mein ganz persönlicher Weihnachtszauber für dieses Jahr nach all dem Stress und dieser nicht ganz so tollen Adventszeit, die ich gehabt hätte, doch noch wahr geworden. So schlimm, wie es auch klang. Die Sache mit Jonas hatte mein Unterbewusstsein wahrscheinlich mehr beeinflusst, als ich gedacht hatte. Nicht einmal die Stimmen und die laute Musik, mit ihrem donnernden Bass aus dem Haus drangen zu mir durch.

Ich hielt kurz inne, als ich Jonas ins Gesicht sah und auch er tat eine zeitlang nichts anderes als mich anzuschauen. Es war schon eine ziemliche Weile vergangen, als sich plötzlich eine der Terrassentüren öffnete und jemand, der anscheinend schon mehr als einen sitzen hatte, nach draußen schrie: „Kommt ihr ollen mal rein, oder was? Vom anstarren wird's auch nicht wärmer!"

Ich war mir sicher, dass ich leicht rot wurde, denn Jonas' Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln. Ich versuchte mich zu räuspern und ihm mit fester Stimme zu bedeuten dass es wohl wirklich besser wäre, wenn wir uns langsam mal wieder auf den Weg ins Haus machten, aber alles was aus meinem Mund kam war ein jämmerliches kratzen. „Ich glaub... wir sollten mal..."

„Ja, sollten wir.", sagte Jonas leicht belustigt, leicht abgelenkt. Fast schon so, als wäre er in irgendwelchen Gedanken versunken.

Er lief an mir vorbei und überholte mich auf dem Weg zum Haus, während ich noch eine weitere Sekunde kurz vor dem Gartentor stehen blieb, um zu versuchen zu realisieren, was das ganze hier eben gewesen war.

Ich folgte ihm zurück in das mittlerweile wirklich viel zu überlaufene Wohnzimmer und sobald mir der erste Schwall warmer Luft entgegen kam, lösten sich meine von der Kälte angespannten Muskeln. Das Herz jedoch schlug mir noch immer bis zum Hals. Diese merkwürdige Situation mit Jonas eben hatte mich noch mehr verwirrt und gleichzeitig auch wieder von meinem Plan abgebracht, mich heute richtig abzuschießen. Aber plötzlich packte mich das merkwürdige Verlangen einfach nach Hause zu gehen. Außerdem war ich mir ziemlich sicher, dass meine Freunde sicherlich begeistert von dieser Idee sein mussten. Immerhin könnten sie dann ungestört den Abend mit Jonas verbringen und müssten sich keine Vorwürfe machen, dass sie mich außen vor ließen.

Ich griff also in meine Jackentasche und wollte mein Handy herausnehmen, um Felix' Nummer zu wählen und ihm mitzuteilen, dass er mich nun abholen konnte. Für einen kurzen Moment brach Panik in mir aus, weil ich statt meines Handys, das ich darin vermutete, nur ein Stück dickes Papier ertasten konnte, das ich im Eifer des Gefechts herauszog. Und genau dann fiel es mir wieder ein. Ich trug schließlich nicht meine Jacke, sondern immer noch die von Jonas.

Überrascht warf ich einen flüchtigen Blick auf das Stück Papier, das ich in meiner Hand hielt. Es fühlte sich nicht wirklich an wie ein zerknüllter Kassenbon und auch nicht wie ein zusammengefalteter Zettel, sondern irgendwie fester und mehr nach Plastik als nach reinem Papier.

Vor allem als ich die Aufschrift darauf erkannte und Jonas' Schrift darauf ausmachen konnte, wurde ich neugierig.

"Mia", las ich.

Der letzte SommerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt