Kapitel 19: 23:38Uhr

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Am Sonntag ging ich nach dem Abendessen noch einmal laufen, denn langsam hatte mich der Ehrgeiz gepackt und ich wollte die Wette gegen Jonas auf jeden Fall gewinnen. Bis jetzt hatte ich zwar noch keine Idee, was genau er tun musste, wenn ich gewann, aber das kam sicherlich noch.

Außerdem wusste ich sowieso nichts, das ich sonst hätte tun können. Jonas war bei diesem Probetraining und Lina mit der Familie ihres Vaters in Österreich zum Wandern, Greta verbrachte ihre Wochenenden eigentlich durchgehend mit Babysitten, Tom zockte den ganzen Tag mit seinem Bruder Anton irgendwelche Videospiele und auf Leo hatte ich keinen Bock. Der war mir dann 99% der Zeit doch zu nervig und wahrscheinlich sowieso damit beschäftigt irgendwelchen Weibern seine unendliche Liebe zuzusprechen, woraufhin sie schmolzen wie Pistazieneis in der Mittagssonne. Im Hochsommer. Dass Leo es mit keinem von ihnen je ernst meinte, war eigentlich kein Geheimnis, doch trotzdem fielen immer wieder neue Mädchen auf ihn herein. Früher hatten sie mir leid getan, doch mittlerweile hielt ich sie nur noch für dämlich. Mit Leonardo sollte man sich wirklich nicht einlassen. Zu viel spanisches Temperament, wenn man mich fragte.

Also ging ich laufen und sprang danach unter die Dusche. Nur mit einem Handtuch bekleidet ging ich züruck in mein Zimmer, um mich anzuziehen. Mittlerweile war es schon fast Mitternacht und Ben schlief wahrscheinlich schon längst.

Doch in meinem Zimmer brannte Licht und ich war mir ziemlich sicher, dass ich es ausgeschaltet hatte, bevor ich ins Bad gegangen war. Naja, hatte ich dann ja wohl doch nicht. Entspannt öffnete ich die Tür und war schon kurz davor mich in Richtung Kleiderschrank zu bewegen, als ich plötzlich sah, dass jemand auf meinem Schreibtischstuhl saß. Ich konnte nicht anders, als loszuschreien. Wer hätte denn in dieser Situation anders reagiert? Ich meine, ich stand hier gerade fast nackt vor irgendeinem Typen, der in mein Zimmer eingebrochen war. Nun gut, es war nicht irgendein Typ, sondern Jonas, aber mal ehrlich: Was wollte er hier und wie zum Teufel ist er ins Haus gekommen? Die Klingel hätte ich doch selbst unter der Dusche gehört.

Zum Glück reagierte Jonas schnell genug und hielt mir die Hand vor den Mund, damit man mein Geschrei unten in der Küche, wo meine Mutter noch immer arbeitete, nicht hören konnte. Wenn sie jetzt auch noch panisch in mein Zimmer gestürmt wäre, wäre der Peinlichkeitsgrad, der gerade sowieso schon  in der Luft lag, nicht unbedingt gesunken.

"Wie bist du hier reingekommen? Mein Zimmer ist im 1.Stock!", schimpfte ich flüsternd. "Und was willst du eigentlich? Es ist mitten in der Nacht!"

"Freut mich auch dich zu sehen, Mia.", sah Jonas mich belustigt an. "Was bist du blass heute. Hab ich dich etwa erschreckt? Außerdem ist es erst 23:38Uhr. Also noch nicht wirklich Nacht.", bemerkte er und warf einen verwunderten Blick in meine Richtung. Naja, eigentlich warf er nicht nur einen Blick in meine Richtung, sondern schaute mich die ganze Zeit an und obwohl er seine Hand längst wieder von meinem Mund genommen hatte, hatte er sich noch keinen Schritt zurückbewegt, sondern stand mir noch immer direkt gegenüber. Ich sah in seine Augen, die meine anlachten. Ich wusste garnicht, dass man mit den Augen lachen konnte.

"Aufhören, Mia! Jetzt!", dachte ich, doch ich konnte mich für einen kurzen Moment nicht bewegen.

Als ich mich endlich aus meiner Starre befreit hatte und wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, sah ich Jonas nun auffordernd an: "Ich höre."

"Davon gehe ich aus. Du hast zwei Ohren.", lachte Jonas und zeigte auf seine Ohren.

"Stell dich nicht dümmer, als du eh schon bist und antworte auf meine Fragen.", flüsterte ich nun leicht wütend. "Was denkst du dir bitte dabei mitten in der Nacht in meinem Zimmer aufzutauchen und wie genau bist du hier überhaupt reingekommen?!", wiederholte ich noch einmal aufgebracht.

"Ich muss mit dir reden.", antwortete er nun in einem nüchternen Ton. "Aber nicht hier. Zieh' dich an und komm mit. Bitte, Mia."

Ich seufzte. "Umdrehen!", wies ich ihn streng an.

"Hatte eh nicht vor Augenkrebs zu bekommen.", antwortete er neckend und wandte sich protestlos der Wand zu.

Ich kümmerte mich nicht um Jonas' Stichelei, sondern hastete zum Kleiderschrank, griff wahllos irgendetwas heraus und streifte es mir in Windeseile über. Als ich mich gerade wieder zu Jonas, dem ich bisher den Rücken zugekehrt hatte, drehte, um ihm Bescheid zu geben, dass er wieder gucken konnte, blickte ich in ein verschmitztes Grinsen: "Willst du so echt vor die Tür gehen?"

Ich blickte an mir herunter. Ich trug eine graue Jogginghose und einen dicken Pullover. "Warum denn nicht?", fragte ich Jonas. "Wo willst du überhaupt hin?"

"Ach, ist eigentlich auch egal", sagte er abwinkend, nahm meine Hand und zog mich zum Fenster.

"Ganz einfach" erklärte er mir. "Du kletterst die Leiter da runter.", er grinste und deutete auf die an die Hauswand angelehnte Leiter.

"Du hast 'ne Leiter mitgebracht? Bist du bescheuert?", ich musste mehr als verwirrt aussehen.

"Nein, nein. Ich hab' die Leiter genommen, die in eurem Gartenhaus stand.", beruhigte er mich.

"Du bist in unser Gartenhaus eingebrochen?!", noch immer klang ich ziemlich entsetzt.

"Die Tür war nicht abgeschlossen.", Jonas zuckte locker mit den Schultern, schob mich langsam aber sicher in Richtung Fenster und bedeutete mir raus zu klettern. Da ich noch immer ziemlich verwirrt war und absolut keine Ahnung hatte, was er mit mir besprechen wollte und wo er überhaupt hin wollte, tat ich einfach, was er sagte.

Als auch er unten angekommen war, zog er mich mit sich von unserem Grundstück weg.
"Wohin gehen wir eigentlich?", fragte ich. Normalerweise war ich echt nicht leicht aus der Fassung zu bringen, aber was hier passierte, verstand ich einfach nicht.

"Wart's ab.", meinte Jonas nur grinsend und führte mich zu dem alten Spielplatz, den es seit Ewigkeiten in unserem Wohngebiet gab und der bestimmt schon genauso lange heruntergekommen aussah.

Mittlerweile hatte ich mich wieder einigermaßen gefasst und wollte endlich wissen, was hier vor sich ging. Bestimmt setzte ich mich auf eine der beiden Schaukeln, klatschte meine Handflächen auf meine Oberschenkel und sah Jonas abwartend an: "Also was ist los? Warum kommst du nachts zu mir nach Hause, holst eine Leiter aus dem Gartenschuppen und kletterst damit in mein Zimmer?"

Der letzte SommerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt