Kapitel 19: Der Dark Angel tritt aus dem Schatten (Teil 1)

32 4 0
                                    

Mittlerweile bin ich bis auf die Knochen durchnässt. Meine Schwerter stecken hinter mir im First des höchsten Daches der Drachenburg, wo der Regen bereits das ganze Blut fort gespült hat. Direkt nachdem die Wolken mich verbargen, bin ich hier her gekommen. Das war vor ein paar Stunden. Das hier war schon immer mein Lieblingsplatz. Hier hatte mich nie einer gefunden und man hat einen wunderbaren Blick über die Landschaft. Statt der Freiheit, die mir dieser Anblick sonst zeigte, spüre ich nur noch mehr Schuld.  Lucian liebt den Blick auf die Welt von oben. Noch bevor er fliegen konnte, sind wir immer auf die Dächer der Burg geklettert, haben den Ausblick genossen und die Erwachsenen geärgert. Hier oben haben sie uns nie gefunden. Durch meinen Ausbruch vor 7 Jahren kann er nun nie wieder klettern, nicht mal mehr laufen.

Immer wieder habe ich in den Jahrhunderten die Kontrolle verloren und jedes mal sind mir wichtige Leute gestorben oder wurden verletzt.
Mit einem Blick auf meinen Arm bemerke ich, dass dieser nervige Drache immer noch leuchtet. Für die anderen Schatten war er ein Segen, der ihnen neue Kraft gab - sie stärker machte. Sie haben es geliebt.
Allerdings reagierte er auf ihre Gefühle.  Je mehr sie fühlten, desto schwächer wurden sie. Angst, Wut, Trauer, Hass. All das machte sie schwächer. Liebe, Glück und Sorge allerdings auch. Aus diesem Grund wurden uns auch so gut wie möglich unsere Gefühle abtrainiert. Selbst in den gefährlichsten Situationen sollten wir noch eiskalte gefühlslose Killer sein - so das Ideal der Schatten. Wer das nicht schaffte, überlebte die Ausbildung nicht.

Recht bald stellte sich heraus, dass die Magie des Drachen auf mein Dämonenblut reagierte und es für mich zu einem Fluch machte. Mein Drachenmal reagiert sehr viel stärker auf meine Gefühle - allerdings grundlegend anders. Je stärker meine Gefühle wurden, desto stärker wurde auch die Magie. Klingt ja eigentlich ganz nett, oder?
Wäre da bloß nicht dieser ziemlich großer Haken...
Mit zunehmender Stärke der Gefühle nimmt auch der Kontrollverlust immer weiter zu und kurz darauf verliere ich jegliche Kontrolle. Ich kann dann nicht mehr zwischen Freund und Feind unterscheiden und vernichte alles in meiner Umgebung. Ich verliere meine Wahrnehmung der Realität. Ich weiß nicht mal mehr was um mich herum geschieht - es ist fast schon wie ein Blackout. Irgendwann wache ich auf - gebadet in Blut - in dem Wissen, dass die ganze Zerstörung - und auch jeder Tote - in der Umgebung meine Schuld ist.

Zu Anfang hatte das noch keinen großen Einfluss. Die Ausbrüche waren selten und wenn, dann waren sie so schwach, dass ich schnell aufgehalten und beruhigt werden konnte. So war es zumindest bis zu jenem Tag ein paar Jahre nach dem Tod meines ersten Meisters. Jenem Tag an dem ich endgültig verstand was Schmerz war. Der Tag an dem ich alles, was mir noch geblieben war, verlor. Der Tag an dem ich meinen ersten starken und recht lang andauernden Ausbruch hatte.

Bei dem Gedanken an jenem Tag spüre ich wieder einen Stich im Herzen. Ich dränge die Trauer schnell wieder zurück - in die tiefsten Tiefen meines Herzens, wo sie als dumpfer Schmerz verbleibt.

Nach diesem schmerzhaften Ereignis wurde ich zu einem wahren Meister der Schatten und begrub all meine Gefühle tief in meinem Inneren - wo viele heute noch liegen.
Erst Jahrzehnte, nachdem ich Julio wieder getroffen hatte, fing ich wieder an Gefühle zu zeigen. Ich weiß noch, dass er mir mit als erstes gesagt hatte, ich hätte 'tote Augen'. Dann passierte es knapp zweihundert Jahre später wieder. Ich hatte Gefühle und verletzte letzten endes nur wieder die, die mir wichtig waren.
Mittlerweile habe ich es halbwegs unter Kontrolle. Zumindest so weit, dass kleine Gefühle okay sind - wie wenn ich Spaß bei etwas habe, mich freue oder auch mal etwas traurig oder wütend bin. Was geschieht wenn es zu viel wird, hat man heute und vor sieben Jahren nur zu gut gesehen. Ich bin froh, dass Lucian es geschafft hat mich aufzuhalten.

Meine Gedanken werden jäh von zwei Gestalten, die ein paar Schritte hinter mir auf dem Dach landen, unterbrochen. Ich spüre, dass es Julio und Aisu sind, drehe mich aber nicht um.
Julio hat ja schon Erfahrung mit mir, aber Aisu hat es zum ersten Mal mit erlebt. Ich kann den Hass nicht vergessen, den ich unter anderem in ihren Augen gesehen habe.
Julio verschwindet auch gleich wieder. Anscheinend hat er Aisu nur her gebracht, denn diesen Ort erreicht man nur wenn man Fliegen kann (oder bei trockenem Wetter sehr gut klettern).

"Darf ich mich zu dir setzen?", fragt sie tonlos.
"Wieso fragst du? Glaubst du ich greife dich wieder an?", erwieder ich genauso tonlos.
"Eher glaube ich, dass du gerade keine Gesellschaft willst. Aber eigentlich war es eine rhetorische Frage", antwortet sie leichthin und setzt sich einfach neben mich an die Dachkante.

"Wieso bist du hier?", frage ich kurz darauf, den Blick immer noch nach vorne gerichtet. "Du hast gesehen was ich anrichten kann. Vor wenigen Stunden habe ich dich fast getötet. Ich habe dir in die Augen geschaut und Hass gefunden. Du hast allen Grund mich zu hassen und auch mir aus dem Weg zu gehen. Also warum bist du hier?"

"Ich hasse dich nicht." Bei ihren Worten schrecke ich hoch und schaue sie endlich an. Sie sitzt neben mir, lässt ihre Beine über die Kante baumeln und lehnt sich etwas nach hinten und schaut friedlich in den Himmel, was gar nicht zu dem stürmischen Wetter passt.

"Ich verstehe dich nicht. Ich glaube, dass du immer noch nicht ehrlich zu mir bist. Aber ich hasse dich nicht. Das was du gesehen hast waren nicht meine Gefühle, sondern deine."

--------------------------------------

Der Wächter der DimensionenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt