Kapitel 16: Ein Zettel gibt Rätsel auf (Teil 4)

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Direkt vor dem Gemälde bleiben wir stehen und ich schaue voller Trauer und Sehnsucht zu ihm hinauf.

Das Gemälde ist deutlich detaillierter als das unscharfe Bild aus der Schule und zeigt auch wie es damals tatsächlich war.
Statt der Glut sind noch züngelde Flammen im Vordergrund zu sehen - dazwischen noch ein paar undeutlich Leichen. Auch hier ist ein augenscheinlich junger Mann mit langen blauen Haaren - eindeutig ich - zu sehen, der einen samuraiähnlichen Mann am Hals hält und würgt. In dieser Version ist mein Grinsen extrem deutlich zu sehen.

Mein Blick verweilt auf dem Mann, der an der Wand lehnt. Auf diesem Gemälde ist zu sehen, wie entspannt er eigentlich ist. Ich sehe ihn wieder vor mir, wie er früher war. Orangener Cowboyhut. Zwei Smileys - verbunden durch eine rote Perlenkette wie eine Art Hutschnur. Einer von ihnen grinst und der andere schaut traurig. An den Seiten hängt eine Schnur herunter, die verhindert, dass der Hut wegfliegt. Der Anhänger, der die beiden Schnüre verbindet, ist ein kleiner schwarz-grüner Drache aus Kristall, den ich ihm mal geschenkt habe. Ein paar grüne Strähnen seines stacheligen Haares schauen hervor. Dazu ein verwegenes Grinsen.
Obwohl er in Japan geboren wurde, wirkte auch er eher wie ein Ausländer.

"...ya. Yuya. Huhu, jemand Zuhause?", fragt Julio und wedelt mit seiner Hand vor meinem Gesicht herum.
Verwirrt schaue ich ihn an. Anscheinend war ich ein wenig in Gedanken versunken.

"Du hast nicht reagiert. Was ist los mit dir? Was hat es mit diesem Gemälde auf sich?", erklärt Julio und wiederholt netterweise seine Fragen.
"Ausnahmsweise hast du auch mal keine Ahnung?", fragt Aisu ihn leicht erheitert.

"Er hat noch nie viel erzählt."
Nun schauen mich beide erwartungsvoll an.

"Das Gemälde ist das ursprüngliche Orginal von dem Bild, das uns Frau Kobayashi heute gezeigt hat. Eigentlich sollte ich da ja hingerichtet werden..."
"Du solltest was?"

"Du willst gar nicht wissen wie oft das schon vorkam", antwortet Julio schulterzuckend, woraufhin Aisu die Arme in die Luft wirft und fragt: "Wieso wundert mich überhaupt noch etwas?"

"Gute Frage", erwieder ich und fahre fort. "Jedenfalls hat ein Maler diese Situation beobachtet und daraufhin entstand dieses Gemälde. Nachdem ich es ein paar Jahre später entdeckt hatte, habe ich ihm einen Besuch abgestattet."
"Was hast du getan?", fragt Aisu skeptisch dazwischen.

"Ich habe ihm nur gesagt wie gut und detaillgetreu ich sein Bild finde", verteidige ich mich. "Und dann habe ich ihn gebeten eine Fälschung anzufertigen, die ein wenig ungenauer ist. Er hat zugestimmt das Original mir zu überlassen und die 'Fälschung' dafür auszugeben. Die Geschichten durfte er weiterhin verbreiten. Auch davor nannte man mich schon den blauen Dämon oder auch Aooni, aber er hat die Gerüchte erst richtig angefacht. Sie waren ganz praktisch, allerdings wollte ich nicht zu genau beschrieben werden. So wären... meine Ziele nicht umsetzbar gewesen."

"Deine Ziele? Leute für Geld töten?", fragt Aisu leise mit einem leicht traurigen sowie missbilligenden Ton in der Stimme.
"Unter anderem", antworte ich kurz angebunden. 

Nach einigen Minuten fragt Julio vorsichtig: "Yuya, wer ist die dritte Person auf dem Gemälde? Der der an der Wand lehnt."
"Niemand wichtiges", lüge ich die beiden an. Auch wenn ich Aisu versprochen habe, dass ich sie nicht anlüge... Das ist eines der Dinge, die auch Julio noch nicht kennt.

Als Reaktion darauf zuckt er lediglich mit den Schultern. "Wieso hast du dann das Original so lange aufgehoben?"
"...weil es mich an die beste Zeit meines Lebens erinnert...", flüster ich so leise, dass ich mir nicht sicher bin, ob die anderen mich überhaupt gehört haben und schaue weiterhin traurig das Gemälde an.

"Du wärst wirklich freiwillig gestorben, oder?" Aisus gemurmelte Frage ist so leise, dass auch ich sie beinahe überhört hätte.
"Du meinst Heath, nicht wahr?", setze ich ihre Frage in einen Kontext und fahre nach ihrem Nicken fort. "Du hast Recht... Ich hätte mit ihm gekämpft und wäre dann endlich gestorben..."

"Wieso? Ist dir dein Leben so egal? Oder bedeutet dir das Leben an sich so wenig?", erwiedert Aisu.
"Was ist es was das Leben so unglaublich kostbar macht?", frage ich meinerseits ohne den Blick von meinem Freund auf dem Gemälde abzuwenden. Als Antwort bekomme ich von Aisu lediglich ein verwirrten Blick, weshalb ich mir nach ein paar Sekunden selbst antworte.

"Alles ist so wertvoll, weil es ein Ende hat. Für das Leben ist das der Tod. Durch seine Begrenzung erhält es seinen Wert. Also sage mir... Was ist das Leben wert, wenn es kein Ende hat? Wenn es den Tod nicht kennt?"

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Der Wächter der DimensionenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt