D E M I R
Meine Tante sieht mich abwartend an, sagt nichts und wartet still. Schmerz liegt in ihren Augen und mein Magen verkrampft sich. Es ist schließlich ihr Bruder, der seit Jahren im Koma liegt. Mein Vater, der im Koma liegt.
Ich schaue zu Kerem herüber, dessen Miene unleserlich und hart ist. Mein Blick wandert zu Selin, die es nicht wagt zu mir aufzusehen. Stattdessen starrt sie auf ihre Tasse, die sie nun krampfhaft in den Händen hält. Ihre Schultern sind angespannt und sie rührt sich nicht, als wäre sie eingefroren. Nichts ist mehr übrig von meiner nervigen und lauten Schwester. Sie ist wieder das kleine Mädchen, das ihre Verbindung zur Welt verloren hat, genau, wie damals, als wir unsere Mutter beerdigen mussten. Selin hatte ihre Farbe völlig verloren und sich monatelang nach der Beerdigung im Zimmer eingesperrt gehabt.
„Ich will ihn besuchen.", sagt Arsen Hala schließlich, als ich immer noch nicht geantwortet habe. Ich habe ihn nicht mehr besucht. Ihn vergessen.
Mir kommt keine Antwort über die Lippen und bevor ich etwas tue, dass meine aufkommende Panik preisgibt, drehe ich um und flüchte aus der Küche.„Demir!", ruft Mira hinterher und ich höre ihre Schritte dicht hinter mir, doch ich bleibe nicht stehen, bis ich in mein Schlafzimmer komme und mich auf mein Bett setze.
Ich schlage mir die Hände an den Kopf und starre mit geweiteten Augen auf den Boden.Vergessen, vergessen, vergessen.
Als wäre er tot.
Ich habe ihn niemals vergessen.
Ich war ihn jede Woche mindestens ein Mal besuchen. Und jetzt? Was bin ich nur für ein Sohn? Mein Vater hat alles für mich getan, war der Beste überhaupt und ich habe ihn im Stich gelassen.
Hat er auf mich gewartet? Wurde er ausreichend massiert, um seinen Körper noch zu spüren? Außer mir geht niemand zu ihm, ich bin der Einzige und jetzt habe auch ich es sein lassen, sobald es gut in meinem Leben lief.
Ich habe ihn ganz alleine gelassen. Das hat er nicht verdient.Zwei zärtliche Hände legen sich um meine Handgelenke und mit sanftem Druck ziehen diese Hände meine von meiner Stirn.
„Demir.", flüstert Mira und ich sehe zu ihr auf. In die meerblauen Augen, die mich in einer Welt versinken lassen haben, in der es nichts außer sie gibt. Diese dunkelblauen Augen haben meine Sinne geraubt und mich für sich eingenommen.Ich habe meinen Vater, der sehr wohl noch lebt, vergessen, wegen ihr.
In den letzten Wochen war mir nichts wichtiger als sie. Ein Lächeln von ihr reicht aus, dass ich alles um mich vergesse und mein gesamtes Sein an sie anpasse.
Für eine Frau habe ich meinen eigenen Vater verlassen. Wie lange hätte es gebraucht, bis es mir aufgefallen wäre, wenn meine Tante es nicht angesprochen hätte?
Gott, ich bin ein miserabler Sohn.„Nein, das bist du nicht.", antwortet sie. Ich muss den letzten Gedanken laut ausgesprochen haben.
Ihre Stirn ist vor Sorge gerunzelt und ihr Blick zuckt zwischen meinen Augen hin und her.
Mira ist meine allererste Schwärmerei gewesen, das kleine Mädchen, das ich immer wieder sehen wollte und jetzt ist sie die Frau, zu der ich jeden Morgen aufwachen will.
Aber sie bringt mich dazu mich gut zu fühlen, wenn ich es nicht verdient habe.Mein Vater hat es verdient glücklich und lange zu leben, doch ich spiele im selben Moment schon lange mit dem Gedanken ihm das Recht auf sein Leben zu nehmen und alle Geräte, die ihn noch an das Krankenhausbett fesseln, abzustellen.
Ich habe die letzten Wochen gelebt, als wäre dieser Schritt schon getan und nicht eine Sekunde daran verschwendet über ihn nachzudenken. Er war mir nicht einmal wichtig genug, mich an ihn zu erinnern.„Soll... ich mit deiner Tante hinfahren?" Ihre Stimme ist zögerlich, doch in ihrem Blick sehe ich, wie ernst es ihr ist. Sie würde es tun, da bin ich mir sicher, doch ich schüttle den Kopf.
Das ist nichts, womit ich sie bürden möchte. Ich habe ihn vernachlässigt und wenn ich ehrlich bin, dann will ich nicht, dass sie mit dieser Seite meines Lebens in Berührung kommt.
Mira ist ein pures und helles Kapitel in meinem Leben und... mein Vater das dunkle? Noch während ich es denke, bin ich angewidert von mir selbst.
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SECRET DESIRE
Teen FictionSie bedeutet seinen Tod. Davon ist Demir fest überzeugt, denn jede Begegnung zwischen ihnen scheint verflucht und ruft eine rasende Wut in beiden hervor. Alles, was Mira je wollte, war Mode zu erschaffen und plötzlich könnte ihr Traum Wirklichkeit...