112|Chancen, Rosen und Sorgen

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M I R A

Wenn ich bisher behauptet habe, dass es anstrengend wäre Demirs Assistentin zu sein, dann nehme ich es hiermit zurück und entschuldige mich im Namen meines alten Ichs bei meinem zukünftigen Ich für diese Dreistigkeit. Denn zum Jahresende ist es schlichtweg fürchterlich.
Ich fühle mich, als würde ich einen eigenen Assistenten brauchen, um überhaupt hinterherzukommen und seine ganzen Termine im Kopf behalten zu können. Je länger der Tag geht, desto besser klingt diese Idee.

Ich wollte seine Mails bis zum Neujahr abgearbeitet haben, aber heute ruft einer nach dem anderen auf den letzten Drücker an, als hätten sie ihre wochenlangen Notizen in den Schubladen ihrer Schreibtische entdeckt und würden die Punkte, in denen ein Anruf bei uns mitunter steht, abarbeiten wollen. Sei es ein Direktor aus dem Ausland, ein Multimillionär mit einer Anfrage auf ein maßgeschneidertes und exklusives Kleidungsstück oder andere Designer, die gerne in der kommenden Saison zusammenarbeiten wollen würden. Bis zum Sommer habe ich schon keine Termine mehr frei und so langsam auch keine Lust mehr es jedem noch einmal erklären zu müssen.

Nachdem ich zwanzig Minuten lang mit einer arroganten Kundin diskutiert habe, knalle ich das Telefon zurück in sein Apparat und schaue zum Fenster rechts, um eine kleine Belohnung für meine Anstrengungen zu erhalten, wie die Aussicht auf einen attraktiven Mann, doch Demir sitzt nicht an seinem Schreibtisch. Seinen Terminkalender habe ich neben mir aufgeschlagen und ein kurzer Blick verrät mir, dass sein Meeting mit Kerem jeden Moment enden müsste. Dann muss ich zu ihm rüber und Notizen nehmen.
Wann kommt endlich mein Feierabend?

Seufzend lasse ich den Nacken kreisen, bevor ich mich dem Computer widme und beginne die Mails durchzulesen. Gerade will ich die unterste Mail öffnen, als das Telefon wieder klingelt. Das Ding wird gleich gegen die Wand geworfen!
Augenrollend hebe ich ab.
„Guten Tag, Mira Acar, Demir Sezins persönliche Assistentin, wie kann ich Ihnen weiterhelfen?", spreche ich fast schon wie ein automatischer Generator und klicke die Mail nebenbei an.
„Hallo!", sagt eine fröhliche Stimme mit einem starken Akzent,„Sie sind genau die Frau, die ich sprechen möchte."

Sobald ich die Mail gelesen habe, klemme ich mir das Telefon zwischen Ohr und Schulter und beginne eine Antwort auf die Anfrage, ob Demir nicht gerne modeln würde, zu tippen. Ein Teil in mir will diese Mail einfach nur ignorieren. Es kommt mir wie der größte Bullshit vor, mit dem ich mich jetzt gerade zwischen all dem Stress befassen muss. Kennt diese Person Demir überhaupt? Es wäre wahrscheinlicher, dass er sein eigenes Haus anzündet, statt sich in Badehosen professionell abfotografieren zu lassen.

„Natürlich wollen Sie mit mir telefonieren. Ich bin schließlich die Assistentin.", antworte ich abwesend und füge hier und da noch ein „Bitte" und „nochmals Danke" in die Mail hinzu, um nicht zu harsch zu klingen.
Die Frau an der Leitung lacht.
„Nein, ich will nicht mit Herr Sezin sprechen." Ist heute der Nervt-Mira-Tag?
„Wieso verschwenden Sie dann meine Zeit? Ich habe sehr viel zu tun und kann mich nicht mit Telefonstreichen befassen.", kommt es aus mir, bevor ich meinen inneren Filter wieder hochfahren kann. Wieso lässt Livia solche Telefonate durch? Ich kann nicht mit noch einer Frau telefonieren, die nichts als ihre eigene Meinung hören kann!

Die Frau schweigt einen Moment und ich bin versucht aufzulegen. Ich verschicke die Mail und öffne die nächste.
„Das ist kein Telefonstreich.", erklärt sie langsam, ihr Akzent nach wie vor stark vorhanden. Vielleicht aus dem Osten? Aber noch etwas anderes ist dabei.
„Ich wollte mit Ihnen sprechen."
„Hatten wir das nicht schon?"
„Sind Sie immer so vordringlich und hören nicht zu?" Sie klingt nicht genervt, viel mehr amüsiert, was ich nicht von mir behaupten könnte. Hat Demir womöglich noch eine Schwester, von der ich nichts weiß?

Ich lasse die Mail vor mir stehen und halte das Telefon wieder in der Hand.
„Was kann ich für Sie tun?", frage ich und schlucke meinen Ärger herunter, denn ich würde gerne behaupten vom letzten Mal mit Selin gelernt zu haben. Wenn sie seine entfernte Cousine ist, dann will ich es mir lieber nicht auch mit ihr ruinieren und Selin eine Verbündete zur Seite stellen.

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