- Kapitel 85 -

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Lukes Sicht

Akiras Name wurde auf dem Display angezeigt.

»Ist sie nicht beim Training?«

Da ich nicht mehr ausreichend Kapazität in meinem Fass des schlechten Gewissens hatte, drückte ich auf den grünen Hörer und stellte den Anruf auf Lautsprecher.

»Luke? Wo bist du? Geht’s dir gut?«, kamen auch sofort die ersten Fragen.
»Ja. Mir geht’s gut«, ging ich nur auf die letzte gestellte Frage ein.
»Stimmt es, dass du nicht bei Damien bist?«, war ihre nächste Frage.
»Stimmt so«, bestätigte ich ihr das, wonach ich meinte ein leises Seufzen gehört zu haben. Konnte mich aber auch irren.

»Pass auf. Damien hat Jules angerufen und gefragt, wo du bleibst. Jetzt machen sich Mom und Jules Sorgen und ich soll herausfinden, wo du steckst«, erklärte sie mir, was los war.
»Wirst du es ihnen sagen, wenn ich dir verrate, wo ich bin?«, wollte ich sichergehen, bevor ich ihr meinen Standort verriet.
»Sie werden es von mir verlangen, aber ich glaube, dass du einen Grund haben wirst heute nicht dort zu sein. Habe ich recht?«
Zustimmend brummte ich und meine Augen hatten wieder die Wasseroberfläche fixiert.
»Ich sage ihnen nichts, dafür möchte ich aber, dass du schreibst, falls was sein sollte und du wieder zurückkommst«, bat sie mich drum.
»Mache ich«
»Danke dir«
»Bin im Moment am Aasee. Wenn der Regen nicht bald aufhört oder stärker wird, muss ich allerdings woanders hin«, verriet ich ihr, wo ich mich aufhielt.
»Okay. Wir sehen uns spätestens heute Abend?«
»Ja«
»Dann bis später und pass bitte auf dich auf!«
»Mache ich. Bis später.«

Dann legte sie auf und ich steckte das Handy wieder in die Hosentasche.

Ich vertraute Akira, dass sie den Erwachsenen nichts verriet. So einfach stellte sie mein Vertrauen nicht aufs Spiel.
Deshalb sollte mir noch genug Zeit bleiben, um ein wenig Ruhe von Zuhause zu haben.

Der einzige Faktor, der mir mein ganzes Vorhaben störte, war das Wetter. Der Regen schien nicht aufhören zu wollen, weshalb ich über einen Ortswechsel nachdenken sollte, bei dem ich nicht so sehr dem kühlen Nass ausgesetzt war.

Noch ein paar Minuten blieb ich auf der kleinen Mauer sitzen und beobachtete die Wasseroberfläche, wie sie immer wieder kleinere Wellen ans Ufer schwappen ließ.

Irgendwann begann die Kälte sich durch meine Klamotten durchzufressen, was mir signalisierte, dass ich nicht mehr länger im Regen sitzen sollte. Meine Kapuze war bereits durchnässt. Da musste ich es nicht erzwingen, dass ich am Ende vollkommen durchnässt war.

Vom Aasee ging ich wieder Richtung Hauptstraße und überlegte, was ein guter alternativer Ort ist, an dem ich sicher vor dem Regen war. Meine Ortskenntnisse waren leider noch nicht die besten, weshalb mir kein Ort einfallen wollte. Außer einer. Da war es aber alles andere als ruhig.
Nach Hause zu fahren kam noch nicht infrage.
Den Ärger dort konnte ich mir wirklich noch ein paar Stunden ersparen. Dafür hatte ich wirklich nicht die Kapazität.

Also blieb mir nichts anderes übrig, als zum Hauptbahnhof zu gehen. Da ist es zumindest überdacht.

Auf dem Weg dorthin dachte sich der Wettergott, dass es eine gute Idee sei noch mehr Wasser vom Himmel fallen zu lassen.

Ich suchte nach einer Möglichkeit um mich unterzustellen.
Ein Haltestellenhäuschen war das einzige, was in der Nähe aufzufinden war.

Dort angekommen schaute ich an mir runter und stellte fest, dass der Regenschauer in kurzer Zeit kurzen Prozess gemacht hatte. Ich war klatschnass und zitterte vor Kälte.

Frustriert seufzend ließ ich mich auf der Bank nieder und legte meinen Kopf in die Hände.
Allzu lange konnte ich nicht mehr in diesen Klamotten rumlaufen. Dafür war es zu kalt und das Risiko, dass ich dadurch krank wurde, war zu groß.
Dazu bereit nach Hause zu gehen, war ich jedoch noch nicht.

In Gedanken versunken starrte ich auf den Boden.

Der Frust darüber, dass mein Ausweichplan im wahrsten Sinne des Wortes drohte ins Wasser zu fallen und ich mich deswegen Mom und Jules früher stellen musste, als geplant, ließ mir die Tränen in die Augen steigen.

Ich wollte doch nur für ein paar Stunden meine Ruhe. Ohne einen Jules um mich herum, ohne eine Mom, die sich Sorgen macht und ohne mir Gedanken über den nächsten Termin bei Damien machen zu müssen!

Die ersten Tränen liefen mir über die Wangen.

Erst als ich Schritte neben mir vernahm, wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht und versuchte mich zusammenzureißen.
Die dazugekommene Person setzte sich neben mir auf die Bank.
Ich würdigte ihr keines Blickes.
Vermutlich war es nur eine Person, die auf den nächsten Bus wartete.

Doch irgendwas war seltsam.

Erst konnte ich dieses seltsame Gefühl nicht einordnen, bis ich bemerkte, dass es die menschliche Präsenz war, die sich links von mir befand.
Sie war seltsam ruhig.
Und bekannt.

Vorsichtig wagte ich es meinen Kopf nach rechts zu drehen.

Das Erste, was ich sah, war die Hose und die Stiefel.
Rot Gelb Hose. Sicherheitsstiefel.

Das Adrenalin schoss mir innerhalb von Millisekunden bis in die letzte Faser meines Körpers.

Die beruhigende Präsenz, die eindeutige Zugehörigkeit zum Rettungsdienst.
Ich hatte eine Ahnung, wer die Person war, die neben mir saß und das schlechte Gewissen drohte mich um den Verstand zu bringen.

Es war seiner beruhigenden Ausstrahlung zu verdanken, dass ich nicht sofort aufgesprungen und abgehauen war.

Dafür stiegen mir erneut die Tränen in die Augen.
»Hör auf zu heulen, verdammt! Du bist selbst schuld!«

Ich krallte mich mit einer Hand in meine Jacke. Gefühlt hatte sich die Kapazität meiner Lungen plötzlich um ein Vielfaches verkleinert, wodurch ich immer kürzere Atemzuge nahm.

»Ruhig atmen Luke. Einatmen … Und ausatmen. Wieder einatmen … Und ausatmen«, bekam ich von der Person neben mir die Anweisung.
Ich richtete meine Konzentration voll und ganz auf meine Atmung und die beruhigende Präsenz neben mir. Es half mir dabei den Fängen der Panikattacke in letzter Sekunde zu entkommen.

Trotzdem blieb das Gefühlschaos von schlechtem Gewissen, Angst und ein wenig Erleichterung in mir zurück.

»Gut machst du das«, lobte er mich und ich hob vorsichtig den Blick, um leicht zu ihm rüber zu schauen.

Es war wirklich er.
Damien.

Wie hatte er mich bitte gefunden?
Und war er böse auf mich?
Zwar wirkte er im Moment alles andere als böse, aber das hatte nichts zu heißen.
Machte ich mir zu viele Gedanken?

WKM - Angst vor ihnen Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt