- Kapitel 103 -

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Lukes Sicht

»Jemanden aufgabeln, der wohl zu lange mit unpassender Kleidung in der Kälte gehockt hat!«, war Maiks Antwort und er versuchte mich erneut zum Aufstehen zu animieren. Ich bewegte mich jedoch keinen Zentimeter.

Schritte kamen auf uns zu und hinter Maik tauchte plötzlich Jules auf, der mich entdeckte und verwundert anschaute.

Nun steckte ich in einer Zwickmühle.

Jules war an sich meine Rettung, jedoch bin ich ja hierhergekommen, um ihm auszuweichen.

»Egal! Besser als Maik!«

Mein Körper löste sich aus seiner Starre und ermöglichte es mir aufzuspringen und zu Jules zu gehen. Ich musste mich an ihm festhalten, wie ein kleines Kind, dass noch nicht so gut das Gleichgewicht halten konnte. Bei mir war es jedoch der Kälte in meinen Beinen verschuldet, dass ich ihnen nicht traute.

»Was machst du denn hier? Ich dachte, du hast dich irgendwo in der Stadt verschanzt«, fragte er mich und schaute mich dabei an.
Darauf zuckte ich nur mit den Schultern.
»Hast du dich jetzt die ganze Zeit draußen aufgehalten?«
Schuldbewusst verzog ich das Gesicht und nickte.
Nach reden war mir nicht zumute. Meine Stimme hätte vermutlich keinen geraden Satz herausbekommen.

»Wie kommt’s, dass er dir vertraut?«, Grätsche Maik in unsere einseitige Unterhaltung.
»Er ist mein Neffe«, beantwortete Jules ihm die Frage.

»Komm. Wir müssen dich dringendst wieder aufwärmen. Du zitterst wie ein Zitteraal. Dein Infekt soll ja nicht wieder schlimmer werden!«, meinte mein Onkel, legte mir eine Hand in den Rücken und schob mich aus dem kleinen Flur, der zum Hinterausgang führte, durch die Fahrzeughalle in Richtung Treppe, die wir nach oben liefen und nach ein paar weiteren Metern vor der Tür des wacheneigenen Behandlungsraums stehen blieben. Diesen schloss Jules auf.

Ich machte einen Schritt rückwärts. Wollte da nicht schon wieder rein.
Das letzte Mal und das erste Mal, dass ich dort drinnen war, lag keine Woche zurück.

»Na komm. Du möchtest vermutlich nicht, dass ich mich im Aufenthaltsraum um dich kümmere«, versuchte er mich dazu zu überreden den Raum zu betreten.

Er hatte recht. Ungern wollte ich in meinem noch sehr angeschlagenen Zustand in die Höhle der Löwen.
Da war der Behandlungsraum die bessere Alternative.

Meine Angst war da jedoch anderer Meinung und ließ sich die wildesten Ideen einfallen, um wieder aus dieser Situation rauszukommen.
Die waren allerdings alle unbrauchbar.
Zu einer erneuten Flucht war ich nicht imstande.

Also hieß es Zähne zusammenbeißen und rein da.

Ich betrat den Raum, der von weiß dominiert wird und Jules folgte mir.

Noch immer raste mein Herz, was dazu führte, dass meine Energiereserven, schneller als mir lieb war, sanken.

Etwas verloren stand ich in der Mitte des Raumes herum, während Jules in eine der Schubladen was zu suchen schien.
Lange dauerte es nicht, bis er gefunden hatte, was er suchte.

»Darf ich einmal Temperatur messen?«, fragte er nach Erlaubnis.
Da ich das die letzten Tage des Öfteren über mich ergehen lassen musste, hatte ich damit kein Problem und gab ihm nickend die Erlaubnis.

Das Ohrthermometer wurde in mein linkes Ohr eingeführt und begann zu messen. Sobald es piept, war die Messung abgeschlossen und Jules entfernte das kleine Gerät aus meinem Ohr.

»34,5 Grad. Nicht dramatisch aber so lassen sollten wir das auch nicht. Am besten du machst es dir auf der Liege bequem. Ich hole dir eine Decke und mache dir einen Tee, damit wir dich schnell wieder auf Normaltemperatur bekommen«.
Er legte das Ohrthermometer wieder zurück in die Schublade, nachdem er die einmal Schutzkappe in den Müll geworfen hat.
»Hältst du es hier ungefähr fünf Minuten alleine aus?«, wollte er sichergehen, bevor er den Raum verließ.
»Denke schon«, traute ich es mich wieder zu sprechen. Das leichte Zittern meiner Stimme war ihm hoffentlich nicht aufgefallen.

»Gut. Dann bin ich in ungefähr fünf Minuten wieder da«
Dann verließ er den Behandlungsraum und ich war alleine.

»Das hast du ja wieder toll hinbekommen Luke. Du wolltest deine Ruhe, und wo bist du jetzt? Im Behandlungsraum der Wache und sogar Jules in die Arme gelaufen!«

Unter frustriertem Seufzen ließ ich mich auf der Liege nieder.

Genau hier.
An diesem Ort hatte ich Marius zum letzten Mal gesehen.
Er saß genau dort neben mir.

Wieder kamen mir die Tränen.
Ich konnte sie nicht aufhalten.
Die Mühe sie zu stoppen machte ich mir nicht. Das hatte keinen Zweck.

Mit angezogenen Knien saß ich da auf der Liege, weinte und wartete auf Jules Rückkehr.

Dieser kam nach den angekündigten fünf Minuten auch mit einer Decke und einer Tasse Tee zurück.

Er schaute zu mir und runzelte bei meinem Anblick die Stirn. Sagten, tat er nichts. Kam einfach zu mir, legte mir die Decke und stellte den Tee auf die Arbeitsfläche.
Danach ließ er sich auf dem Rollhocker nieder.

Für einige Minuten sagte niemand was. Es war so still, dass man eine Stecknadel auf den Boden hätte fallen hören.

Irgendwann hatte Jules mir den Tee gereicht und ich versuchte ein paar Schlucke zu trinken. Noch war er viel zu heiß und ich hatte mir die Zunge verbrannt.

»Sorry, dass ich wieder abgehauen bin …«, entschuldigte ich mich leise bei ihm.
»Eher sollte ich mich entschuldigen. Ich hätte dich nicht so bedrängen dürfen. Stattdessen hatte ich dir Luft lassen sollen, damit du dir Nachricht verarbeiten kannst«, kam auch von ihm eine Entschuldigung.
Darauf nickte ich.
»Ich wollte einfach sichergehen, dass es dir gut geht.«

»Schon gut«, sagte ich darauf und schaute auf die Oberfläche des Tees, die kleine Wellen aufwies, weil ich immer noch am Zittern war.

Die Minuten vergingen. Ab und an versuchte ich einen Schluck Tee zu trinken. Doch je mehr Zeit verging, desto müder wurde ich.
Der Quälgeist namens Jules ließ mich aber nicht die Augen schließen, bis ich die Tasse Tee leer hatte und meine Körpertemperatur über der 35 Grad Marke war.

Zu meinem Leidwesen zog sich das einige Zeit hin.

WKM - Angst vor ihnen Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt