- Kapitel 80 -

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Lukes Sicht

Irgendwann hatte der Schlaf mich eingeholt.

Die Nacht verlief Ruhig.
Von Jules gelegentlichen Checks, ob ich noch lebendig war, bekam ich nichts mit.

Zwar wurde ich ein paar Mal wach mitten in der Nacht, das war aber zu den Zeitpunkten, wo Jules nicht reinkam.

Meine Nacht endete um halb zehn, als ich wach geworden bin und auf mein Handy geschaut habe, um nachzusehen, wie spät es war.
Noch ziemlich verschlafen rieb ich mir durch die Augen, wobei der Zugang wieder auf seine Existenz hinwies.

»Ob ich den heute schon loswerde?«

Ich bezweifle es irgendwie, aber man darf ja hoffen.

Da sich mein Hals ausgetrocknet anfühlte und ein ekliger Geschmack meinen Mund eingenommen hat, musste ich erstmal einen Schluck trinken. Das half zum Glück.

»Soll ich aufstehen, auch wenn das Risiko besteht, das Jules noch da ist?«

Ich hatte Hunger, das war ein Grund fürs Aufstehen und runtergehen.
Dass ich gerade erst wach war und nicht Jules als erstem an diesem Tag über den Weg laufen wollte, war ein Grund dagegen.
Die Tatsache, dass er früher oder später in meinem Zimmer auftauchte, um nach mir zu sehen, ließ mich meinem Hungergefühl nachkommen.

Leise verließ ich mein Zimmer und lauschte erstmal, ob irgendwas im Haus zu hören war. Stimmen, der Fernseher oder sowas.
Doch es war still.

Ob er schon wach war?
Und was war mit Mom?
War sie da oder bei Dad im Krankenhaus?

Möglichst leise versuchte ich in die untere Etage des Hauses zu kommen.
Ungern wollte ich jemanden wecken.

Als ich in die Küche kam, stellte sich meine Mühe als umsonst heraus.

»Guten morgen Luke. Gut geschlafen?«, begrüßte Jules mich, der am Tisch saß.

»Rückwärtsgang einlegen und zurück ins Zimmer«, war der erste Impuls, den ich aber abwehren konnte.

»Guten Morgen«, brummte ich und zwang mich den Raum ganz zu betreten und mir mein Frühstück zu machen.
»Wie geht’s dir?«, begann auch schon die Ausfragerei nach meinem Zustand.
»Gut«, antwortete ich kurz darauf. Zu mehr war mein frühmorgendlicher Wortschatz nicht in der Lage.
»Wie sieht aus mit Kopfschmerzen und der Übelkeit?«
»Nichts mehr.«
Ich setzte mich mit meiner Schüssel Schokomüsli auf meinen Platz am Tisch.
»Das ist gut dafür, dass du wohl ordentlich mit dem Kinn deinen Sturz gebremst hast«
Fragend schaute ich ihn an. Woran sollte er das erkennen?
»Dein Kinn sieht aus, als hättest du einen ordentlichen Kinnhaken abbekommen. Ist ein bisschen blau geworden«, beantwortete er mir meine im Stillen gestellte Frage.

Direkt strich ich über die Stelle, die gestern dem Boden zu nahe gekommen war und bemerkte die leichte Schmerzempfindlichkeit.

»Ob das wieder weggeht, bis die Schule wieder anfängt?«

Ungern wollte ich, dass andere von mir denken, dass ich in eine Schlägerei oder so geraten bin.

»Tuts denn weh?«, setzte Jules seine Fragerei fort.
»Nur wenn man darauf Rum drückt«, meinte ich und schob mir einen Löffel Müsli in den Mund.

Für kurze Zeit war es still zwischen uns und ich konnte in Ruhe frühstücken.
Kurz nachdem ich fertig war und gerade mein Geschirr in die Spülmaschine räumen wollte, fiel dem Herrn Notarzt doch noch etwas ein:
»Steht heute irgendwas an?«

Verneinend schüttelte ich den Kopf.

»Bin wieder oben«, kündigte ich mein Verschwinden in die obere Etage an.
Jules sagte darauf nichts, was für mich bedeutete, dass er nichts mehr zu bereden hatte.

Oben ging ich erstmal ins Bad, wo ich mich vor den Spiegel stellte und mein Kinn begutachtete.
Jules hatte mit seiner Aussage nicht übertrieben. Meine Kinnpartie sah wirklich so aus, als hätte ich einen Kinnhaken kassiert.
Da wo gestern noch nichts zu sehen war, schimmerte es jetzt blau, lila.

Leise seufzte ich, wandte mich von meinem Spiegelbild ab, ging aufs Klo und danach in mein Zimmer, wo ich mich wieder auf mein Bett setzte, mir meine Kopfhörer aufsetzte und in die Welt der Videospiele eintauchte.

Unterbrochen wurde ich einige Zeit später von Akira, die sich zu mir aufs Bett setzte.
Ich setzte die Kopfhörer ab und schaute zu ihr.
»Hey, alles klar?«, fragte ich sie.
»Geht und bei dir? Dein Kinn sieht übel aus«, gab sie mir die Frage zurück.
»Besser als gestern«, meinte ich und legte mein Handy weg.
»Wie geht’s dir mit Jules Anwesenheit?« Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Wand.
»Weiß nicht. Zwiespalt. Einerseits denke ich mir, dass es nicht schlimm ist, schließlich ist Jules unser Onkel. Andererseits nagelt die Angst mich auf der Tatsache fest, dass er Arzt ist und mir ja was antun konnte.
Ja. Der Gedanke ist irrational. Wieso sollte er mir was tun?
Nur reicht diese Erkenntnis leider nicht, damit ich gegen die Angst ankomme.«

Darauf nickte sie und ließ ihren Blick durch mein Zimmer wandern.

»Viola hat mir angeboten bei ihr zu übernachten von heute auf morgen.
Ich bin mir aber nicht sicher, ob das eine gute Idee ist.
Ungern möchte ich dich mit Jules und Mom alleine lassen«, teilte sie mir mit und traute sich nicht mich anzusehen.

Ich wusste in ersten Moment nicht, was ich darauf sagen sollte.
Sollte ich darauf bestehen, dass sie bleibt, damit ich mehr Sicherheit habe und damit weniger Angst?
Oder sollte über meinen Schatten springen und sie sich mit Viola treffen lassen?
Verbieten konnte ich es ihr nicht, aber überstand ich einen Tag Jules Anwesenheit ohne sie?
War ich schon so weit?

Mir wurde heiß.

»Meinst du, du schaffst das bis morgen? Oder ist das unmöglich?«, wollte sie von mir wissen.
Darauf konnte ich nur mit den Schultern zucken.

Wieder nagte das schlechte Gewissen an mir.
Ich konnte sie schlecht dazu zwingen zu bleiben. Sie ist nicht dafür verantwortlich, wie es mir ging. Sie sollte ihr eigenes Leben leben, unabhängig davon, wie es mir in ihrer Abwesenheit ging.

»Mach ruhig. Ich schaffe das schon«, sprach ich meine Entscheidung aus und bereute es innerlich ab Sekunde eins. Mich doch noch spontan umzuentscheiden kam nicht infrage.

»Bist du dir sicher?«, vergewisserte meine Zwillingsschwester sich und schaute mich eindringlich an. »Sicher«, versicherte ich ihr, was gelogen war.

»Gut. Ich muss dann Mal Mom fragen. Falls was sein sollte, schreib mir. Dann mache ich mich sofort auf den Weg«. Sie stand auf und ich nickte auf ihre Aussage.

Dann verschwand sie aus meinem Zimmer.

Auch noch ein paar Minuten nach ihrem verschwinden aus meinem Zimmer schaute ich meine Zimmertür an und stellte meine Entscheidung infrage.

Ich alleine mit Jules in diesem Haus.
Ob das gut ausging?
Oder sollte ich mich besser den Nachmittag über verziehen und erst am Abend wiederkommen?

»Soviel zum Thema, dass meine Angst sich ihm gegenüber gebessert hat …«

Mir kamen Moms Worte wieder in den Sinn.
Ihre Aussage, dass mein bisheriger Fortschritt nicht ausreichend war.

Ich zog die Knie an und starrte auf meine Bettdecke.

Hatte die „Therapie“ mit Dr. Martens überhaupt einen Sinn, wenn sie keine nennenswerten Forstschritte brachte?
Sollte ich das ganze abbrechen und so weitermachen wie vor der Begegnung mit ihm?

WKM - Angst vor ihnen Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt