- Kapitel 111 -

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Lukes Sicht

Ein paar Minuten verbrachte ich alleine in diesem von weiß dominierten Raum, bevor Damien wieder zurückkam.

Er legte zwei DIN A3 Blätter neben mich auf die Liege, sowie ein paar kleine Zettel und Tesafilm.

»Das, was ich dir zeige, ist eine Methode, die ich öfter bei Patienten mit Angststörungen anwende. Das soll dabei helfen den Fortschritt besser zu visualisieren«, sagte Damien zu mir, während er sich wieder auf dem Rollhocker niederließ.

Noch verstand ich nicht, wie mir ein paar Zettel und Tesafilm helfen sollten meinen Fortschritt deutlicher zu machen.

Er begann die beiden DIN A3 Blätter aneinander zu kleben, zückte danach einen Stift aus einer seiner Jackentaschen und unterteilte die Blätter in verschiedene Bereiche. In die einzelnen Zeilen schrieb er je eine Zahl. Oben begann es mit zehn und unten endete es mit eins.

»Das funktioniert jetzt wie folgt. Wir schreiben auf die kleinen Zettel jetzt das auf, was dir Angst macht. Nicht das große ganze, sondern wir teilen das auf. Nehmen wir beispielsweise, die OP, die noch ansteht« Er nahm einen der kleinen Zettel und schrieb da „OP“ drauf.
»Das darfst du hier jetzt einordnen. Zehn bedeutet, dass du alles dafür tun würdest, um dieser Situation auszuweichen, weil die Angst davor zu groß ist. Eins bedeutet, dass du damit keine Probleme hast oder ganz wenig«, erkläre er mir.

Die OP war der Endgegner.
Ja. Ich hatte es bereits ein Mal überstanden. Trotzdem wurde mir alleine beim darüber nachdenken unwohl und schlecht. Aus Angst, dass sich die Erfahrung, für ich als Kind machen musste wiederholt.

»Neun oder zehn?«, überlegte ich.
Aus irgendeinem Grund wollte ich es nicht auf die zehn setzen. Zehn ist das höchste und ich wollte nicht übertreiben.

»Neun«, entschied ich mich und Damien klebte den kleinen Zettel mit Tesafilm in die Zeile mit der Nummer neun.

»Und so verfahren wir jetzt weiter. Was würdest du noch hinzufügen?«, regte er mich zum Nachdenken an.

Ich überlegte.
»Zugang gelegt bekommen?«
Er schrieb das auf einen kleinen Zettel.
»Wo würdest du das einordnen?«
»Sechs«, ordnete ich das ein und Damien klebte den Zettel an besagten Platz.

Dasselbe machten wir mit noch ein paar mehr Zetteln.
Neben „RTW betreten“ und „von fremden Sanitätern / Notärzten behandeln / Untersuchen lassen“ sind noch andere dazu gekommen.

»Der Plan ist, dass wir uns jetzt wöchentlich oder alle zwei Wochen wieder diese Skala vornehmen und schauen, ob sich darauf was verändert hat. Wenn ja, wird verschoben, wenn nicht, dann nicht, was nicht schlimm ist«, fuhr er mit seiner Erklärung fort.

Ich war noch etwas skeptisch, aber beschloss dem eine Chance zu geben.

Damien stand auf, rollte die Angstskala aus Papier zusammen.
»Die bringe ich Mal eben weg. Wenn du magst, kannst du aufstehen, schon mal vor die Tür gehen und dort auf mich warten«, sagte er mir, was er vorhatte.
Ich stand von der Liege auf und folgte ihm aus dem Behandlungsraum raus auf den Flur. Er schloss den Raum ab und ging die Rolle aus Papier wegbringen.
Keine zwei Minuten später kam er wieder und wir gingen zurück in den Aufenthaltsraum.

Dort war bis auf das RTW Team mit den mir unbekannten Sanitätern niemand.
Auf dem leeren Sofa ließ ich mich nieder und Damien setzte sich dazu.

»Hab ich es für heute überstanden und ich muss nur noch darauf warten, dass die Zeit Rum geht?«

Mein Kopf würde es begrüßen.
Wieso musste das so anstrengend sein?

Das Glück schien an dem Tag auf meiner Seite zu sein und ich musste wirklich nicht mehr tun, als die Zeit abzusitzen und mich nicht von der inneren Unruhe wahnsinnig machen zu lassen.
Damien ließ mich wie immer um fünfzehn Uhr gehen.
Zeitig genug hatte ich Mom geschrieben, dass sie mich abholen kommen konnte, damit ich, nachdem ich die wache verlassen hatte, nicht mehr lange auf sie warten musste.

Im Auto wurde ich wie fast immer gefragt, wie es war, was ich mit einem »Ganz okay«, beantwortete.

Zuhause ging ich direkt auf mein Zimmer. Denn ich brauchte Ruhe.
Bevor ich mich erschöpft auf mein Bett fallen ließ, zog ich mich schnell um.

Die Bettdecke zog ich halb über mich drüber und die Kopfhörer fanden ihren Platz auf meinen Ohren.
Wie immer wollte ich meine Gedanken mit YouTube Hilfe eine Pause von dem Thema Medizin und was alles noch Anstand geben.
Das Vorhaben wurde jedoch von einem Klopfen an der Tür unterbrochen.
Ein mehr oder weniger erfreutes »Ja?« kam darauf aus meinem Mund und ich schaute in Richtung der hölzernen Raumtrennung.
Diese öffnete sich und Mom kam herein.
»Hast du auf der Wache was gegessen?«, fragte sie nach.
»Nein. Habe ich nicht«, antworte ich.
»Dann iss bitte was«, bat sie mich darum.
Die Motivation aufzustehen und runter in die Küche zu gehen hielt sich in Grenzen und auch mein Appetit war abwesend.

Unter leisem Seufzen richtete ich mich wieder auf und kam Moms bitte nach. Auf Diskussionen hatte ich keinen Bock.

Unten konnte man den Fernseher im Wohnzimmer laufen hören. Vermutlich schaute Dad wieder irgendeine Serie.

In der Küche schnappte ich mir einen Joghurt, setzte mich mit diesem an den Tisch und aß.
Sobald ich fertig gegessen hatte, ging ich zurück ins Zimmer und konnte endlich in Ruhe YouTube schauen.

Die einzige Person, die mich in meinem tun, noch einmal unterbrach, war Akira. Sie wollte wissen, wie es auf der Wache war und ich erzählte ihr wie die „Konfrontationstherapie“ gelaufen war und von der Angstskala, die wir angelegt haben.
Danach erzählte sie mir von ihrem Training.

Sobald wir beiden mit erzählen fertig waren, machte sie es sich neben mir bequem und wir schauten zusammen YouTube. Warteten aufs Abendessen und ließen den Tag ausklingen.

WKM - Angst vor ihnen Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt