- Kapitel 107 -

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Lukes Sicht

Es dauerte keine zehn Minuten, bis Jules zum Auto kam.
Wortlos stieg ich ein und es ging nach Hause.

Zuhause verzog ich mich in mein Zimmer, legte mich auf mein Bett, setzte mir Kopfhörer auf, machte Musik an und dachte über Damiens Vorschlag nach, dass ich darüber nachdenken sollte nachzufragen, ob ich zu Marius Beerdigung darf.

Ich war zwiegespalten.
Einerseits gab mir die Beerdigung die Möglichkeit Abschied von ihm zu nehmen, andererseits glaube ich, dass ich dort nichts zu suchen hatte.

»Vielleicht ist die Variante mit dem Brief doch besser«, überlegte ich und setzte mich auf.
Zwar konnte ich mir nicht vorstellen, dass es mir helfen sollte ein paar Worte auf ein Stück Papier zu schreiben, aber wenn Damien diesen Vorschlag macht, muss ja was dran sein.

Trotz fehlender Motivation mich großartig zu bewegen, wechselte ich von Bett zu Schreibtisch und ließ mich auf den Schreibtischstuhl fallen.

Aus meinem Schulranzen holte ich meinen Collageblock aka Mappe für alles und mein Mäppchen, aus dem ich meinen Füller rausnahm.

Meine Augen fixierten das Blatt.
Meine Hand war bereit zum Schreiben.
Doch kein Wort wurde geschrieben.

»Wie fängt man so einen Brief an? Soll ich „Hey Marius“ schreiben? Oder einfach drauflos? Was soll ich überhaupt schreiben? Soll ich mich einfach auskotzen? Wobei … das ist ein Brief an ihn. Den kann ich doch nicht mit negativen Sachen voll müllen.«

Warum war das so schwer?
Es war doch einfach schreiben.
Wörter aufs Papier bringen.
Mir ging so viel durch den Kopf, da sollte doch was dabei sein, was auf dieses Blatt Papier gebracht werden konnte.
Doch es wollte nicht klappen. Die Wörter wollten nicht aus meinem Kopf und durch den Stift verschriftlicht werden.

»Man das kann doch nicht so schwer sein!«

Ich pfefferte den Stift auf den Tisch und lehnte den Kopf nach hinten an die Stuhllehne.

Wieder kamen mir die Tränen.
Mit meinem Hoodie Ärmel wollte ich sie weg wischen. Versuchte mich Zusammenzureißen, um nicht wieder anzufangen zu heulen.

Man. Ich hab die letzten eineinhalb Tage schon genug geheult!

Die Welle der Trauer, Wut und Schuld baute sich erneut in mir auf und drohte mich mitzureißen.
Frustration beschloss sich der Front anzuschließen und ich war ihnen schutzlos ausgeliefert.

Die Welle brach über mir zusammen und die Flut der Tränen begann sich erneut ihren Weg aus meinen Augen runter zu meinem Kinn zu Bahnen, ohne, dass ich es aufhalten konnte.

Mit Tränenverhangenen Blick schaute ich auf das Blatt vor mir.

In dem Moment übernahm in mir wieder einmal der scheiß egal Modus und ich nahm den Stift ein weiteres Mal zur Hand.

Dann fing ich an zu schreiben an.
Schrieb einfach drauflos.
Kaum waren die ersten Worte aufs Papier gebracht, kam ich in einen Schreibfluss.
Hörte nicht auf die Einwände meines schlechten Gewissens, dass ich den Brief nicht voll negativer Sachen packen sollte.
Es war mir einfach egal.

Nach Minuten des drauflos Schreibens, dem Auskotzen auf einem Blatt Papier, legte ich den Stift weg und betrachtete mein Werk.

Las es mir noch einmal durch.

»Hey Marius,
es ist gerade Mal einen Tag her, dass Jules mir die Nachricht über deinen Tot überbracht hat …
Als ich das gehört habe, kam mir direkt eine Frage in den Kopf: Hätte ich es verhindern können?
Hätte ich deinen Tod verhindern können, indem ich dich an dem Tag, an dem du in der Wache zu mir gekommen bist, obwohl ich krank war, eher weggeschickt hätte?
Jules hat mich bereits versucht davon zu überzeugen, dass ich keine Schuld trage und Damien hat auch versucht mir die Schuldgefühle zu nehmen, doch das Bild ist klar.
Wenn du dich wirklich bei mir angesteckt hast und dein Körper das als zu viel angesehen hat und dein Herz deswegen aufgegeben hat, habe ich eine Mitschuld.
Ich hätte dich wegschicken müssen. Ich war der Ältere, hatte die Verantwortung. Egal ob ich krank war …
Ich hoffe du bist mir nicht böse und dir geht es gut, wo du jetzt bist.
Wir kannten uns zwar nicht lange und trotzdem fühlt es sich so an, als hätte ich einen Freund verloren, den ich bereits Jahre kenne.
Denn es tut genauso weh.

Weißt du … Es ist aktuell einfach verdammt viel.
Mir geht so viel durch den Kopf.
Damiens Konfrontationstherapie, Dads Unfall, dein Tod, die Schuldgefühle deswegen, die anstehende zweite OP an meinem Arm.
Manchmal weiß ich nicht wohin mit meinen Gedanken und den ganzen Gefühlen. Und wenn mir dann beispielsweise wieder ein Jules auf die Nerven geht, flüchte ich wieder statt mich der Situation zu stellen. Obwohl ich weiß, dass Flucht nicht die Lösung ist. Wenn, nur eine temporäre. Früher oder später muss ich mich den Situationen stellen. Ob ich will oder nicht.

Gestern war das auch wieder so. Ich hab mich so derbe von Jules bedrängt gefühlt, dass ich einfach raus musste. Sein ständiges nachfragen, wie es mir geht, hat meine Nerven, die damit beschäftigt waren, deinen Tod zu realisieren, einfach zu sehr strapaziert und dann musste ich weg.
Das meine Flucht letztendlich wieder in seinen Armen geendet hat, war so ne Sache. Aber wie hättest du dich entschieden? Maik bzw. Maiky oder Jules? Wahrscheinlich auch Jules.

Naja. Sorry fürs Auskotzen. Das musste einfach sein.
Seltsamerweise hat es sogar etwas geholfen.
Vielleicht sollte ich das öfter machen?
Ich werd’s in Zukunft mal versuchen.
Trotzdem ist das irgendwie komisch einer Toten Person einen Brief zu schreiben.

Wie auch immer.
Hoffentlich geht es dir gut.
Vielleicht hörst du in Zukunft mehr von mir.
Mach’s gut!«

Einmal atmete ich durch, nahm mir eine leere Mappe aus meiner Mappensammlung und heftete dort den Brief ein.
Die Mappe blieb auf dem Schreibtisch liegen. Einfach für den Fall, dass ich mir den Brief nochmal durchlesen wollte.

Dann lehnte ich mich zurück, schloss die Augen und lauschte der Musik, die noch immer auf meinen Kopfhörern lief.

WKM - Angst vor ihnen Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt