Kapitel 11

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Peinlich. Peinlich. Peinlich.
Das war das erste Wort, das mir in den Sinn kam, gleich nachdem ich die Augen aufgeschlagen hatte. Oh mein Gott. Bei der Erinnerung an die gestrige Flugstunde bedeckte ich beschämt meine Augen mit beiden Handflächen, als könnte ich die Bilder so daran hindern, in meinem Kopf aufzusteigen.
James' entsetzter, leicht angewiderter Blick auf seine Schuhe. Sirius, der vor Lachen von seinem Besen fiel. Und wieder James, wie er mich verständnisvoll nach drinnen brachte, mich in mein Bett verfrachtete und mir einen Eimer daneben stellte.
Bei Merlins linkem Ohrläppchen. Ich hatte den Inhalt meines Magens auf James Potters Füßen ausgeleert!
Verstohlen schielte ich auf den Fußboden. Vielleicht hatte James ja Fußabdrücke auf dem Boden hinterlassen. Aber nein, alles war blitzblank. Am Ende hatte er wegen mir putzen müssen. Oder schlimmer noch, Holly! Die arme kleine Elfe.
Ich stöhnte. Zum Teufel mit meiner Höhenangst. Ich war ein schrecklicher Gast.
Während ich zum Frühstück nach unten ging, tröstete ich mich mit dem Gedanken, dass es wenigstens nicht James' Eltern gewesen waren, die ich ... nun ja... angespuckt hatte.
Potter und Black – ach verdammt, nochmal von vorne. James und Sirius saßen schon am Esstisch, als ich mich zu ihnen gesellte, den Blick verlegen auf die Fußbodenfliesen gerichtet. Sirius stieß mich mit dem Ellbogen an.
„Ach komm schon Lily, wir wussten doch von Anfang an, dass du James zum Kotzen findest", witzelte er. Ich verzog das Gesicht. Mir war gerade nicht nach einer unserer üblichen Diskussionen, deshalb unterließ ich es, irgendwas Spöttisches zurückzugeben. Scheinbar sehr auf mein Essen fixiert, schüttete ich Müsli in meine Schüssel. Dabei ließ ich meine Haare wie einen tomatenroten Schleier vor mein Gesicht fallen.
„Padfoot", zischte James seinen Kumpel an. „Was denn?", gab der beleidigt zurück. „Ich kann ja nicht wissen, dass Miss Evans heute nicht gut zu sprechen ist."
Haha. Themawechsel, bitte!
Ausgerechnet James half mir aus der unangenehmen Situation, indem er das Wort ergriff. „Dann hab' ich etwas, was dich aufmuntern könnte, Lily."
Ich wagte es nicht, den Kopf zu heben. Was auch immer Pot – James damit meinte, es konnte mir gestohlen bleiben.
„Lily, hör auf uns zu ignorieren, sonst geben wir dir deinen Hogwartsbrief nicht", sagte James fröhlich. Mein Kopf schoss hoch.
Der Brief! War er wirklich endlich angekommen? Ich wartete seit Ferienbeginn sehnsüchtig auf diesen Brief. Das hatte auch einen bestimmten Grund: Nun, da wir in die siebte Klasse kommen würden, bestand die Chance, Schulsprecher zu werden. Und, bei Merlin, ich hatte jahrelang hart für diesen Posten gearbeitet.
Ich hatte gelernt, bis ich über meinen Schulbüchern einschlief, hatte Hausaufgaben gemacht, jede freie Minute in der Bibliothek verbracht, nie gegen eine Regel verstoßen, freiwillig Zusatzaufgaben übernommen und war Vertrauensschülerin geworden.
Wehe, man hatte mir nicht diesen verdammten Posten gegeben.
„Her mit dem Brief!", kreischte ich, vergaß mein Frühstück und sprang auf.
Ich starrte fieberhaft zu James hinunter, der immer noch saß.
Er deutete grinsend in Richtung Küche, wo drei Briefumschläge sich stapelten.
Wie von Sinnen rannte ich um den Tisch herum (wobei ich die Tischplatte anstieß und etwas scheppern hörte. „Hey, das wollte ich noch essen!", beschwerte sich Sirius) und stolperte zur Theke.
„Bring unsere auch mit!", rief James mir hinterher. Kurz vor meinem Ziel kam ich schlitternd zum Stehen. Gierig schnappte ich mir die Briefe und suchte nach meinem Namen. Da! Lily Evans.
Oh mein Gott. Ich konnte einfach nicht mehr warten. Achtlos warf ich die Briefe mit der Adresse „James Potter" und „Sirius Black" über meine Schulter in Richtung Tisch, dann konnte ich mich endlich voll und ganz meinem Umschlag widmen. Hastig riss ich ihn auf und schüttete den Inhalt aus.
Ein silbernes Abzeichen segelte hinaus.
Ich stieß einen spitzen Schrei aus und führte einen Freudentanz auf. Das Schulsprecherabzeichen! Ich hatte es tatsächlich geschafft!
„Bei Merlins pinker Unterhose!", kreischte ich vergnügt. Hibbelig auf und ab hüpfend las ich mir den zugehörigen Brief durch. Wie immer war die Materialliste dabei, allerdings mit ein paar zusätzlichen Worten am Ende:

Sehr geehrte Miss Evans,
Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, dass sie zur Schulsprecherin des Jahres 1977/78 ernannt wurden. Sie und ihr Partner verfügen über ein eigenes Abteil im Hogwarts – Express und haben die Aufgabe, die diesjährigen Vertrauensschüler noch während der Fahrt einzuweisen, sowie Rundgänge im Zug zu machen.
Mit weiteren Aufgaben werden sie zu Beginn des Schuljahres betraut.
Mit freundlichen Grüßen,
Minerva McGonagall
Stellvertretende Schulleiterin

„Oooh, ich kann's nicht glauben!", quietschte ich, völlig von den Socken. Strahlend drehte ich mich zu den beiden Jungs um. Sirius beobachtete mich mit leicht verstört zusammengezogenen Brauen. „Lils, sorry, aber es war jedem klar, dass du Schulsprecherin werden wirst", grummelte er, nicht annähernd so begeistert wie ich.
„Halt die Klappe, du Pessimist", lachte ich. Nichts und niemand konnte mir meine gute Laune verderben. Ich schwebte buchstäblich im siebten Himmel.
Bis mein Blick auf James fiel. Im Gegensatz zu Sirius beschäftigte er sich nicht mit mir, sondern mit seinem eigenen Brief. Die Stirn gerunzelt starrte er auf das Blatt Pergament, als wolle er ein Loch hineinbrennen.
„Jaaames", sagte ich, wobei ich seinen Namen in die Länge zog. „Ich bin Schulsprecherin geworden!" Ich wedelte mit dem Abzeichen vor seiner Nase rum. Keine Ahnung, warum, aber ich wollte die Anerkennung von irgendwem. Immerhin platzte ich gerade vor Stolz.
„Das ist ... toll", murmelte mein Gegenüber abwesend.
„Was hypnotisierst du da denn so?", wollte ich misstrauisch wissen.
„N ... nichts..." Sirius zog seinem Freund den Brief vor der Nase weg. Seine grauen Augen weiteten sich, dann fing er an bellend zu lachen.
„Bei Merlin, das kann doch nicht ihr Ernst sein! Wie viel Feuerwhiskey hatte Dumbledore bitte intus?" Er klopfte James auf die Schulter und schien sich blenden zu amüsieren, während Potter wie ein Häufchen elend auf die Tischplatte stierte.
„Hallo!", machte ich genervt auf mich aufmerksam. „Erklärt mir mal einer, was hier los ist?"
Grinsend hielt Sirius ein silbernes Abzeichen hoch, das genau wie meins aussah, nur dass dort „Head boy" und nicht „Head girl" stand.
Hieß das...? Nein. Unmöglich.
„Sieht aus, als wärt ihr zwei Partner!", verkündete Sirius, der aussah, als hätte er einen Riesenspaß an der Sache.
„Nein." Fassungslos sackte ich auf einem Stuhl zusammen. „Nein, das kann doch nicht sein... sie müssen sich vertan haben..." Hysterisch griff ich nach Potters Brief und überflog ihn. Da stand es, schwarz auf weiß.
„WAS?!" Ich starrte Potter, den Verursacher alles Bösen, zornig an. „Du bist Schulsprecher? Du? Wer ist denn auf diese bescheuerte Idee gekommen! Ich habe jahrelang hart für diesen Posten gearbeitet, während du ... Meine Güte, du hast nicht einmal verantwortungsvoll gehandelt!"
Komplett durch den Wind raufte ich mir die Haare. „Remus hätte Schulsprecher werden müssen", murmelte ich, eher zu mir selbst als zu den Jungs. „Jeder andere wäre eher Schulsprecher geworden als du!"
„Lily!", unterbrach Potter mich. Ich schaute wieder zu ihm. Mittlerweile sah er eher wütend und verletzt aus als überrascht.
„Ich weiß doch selbst nicht, wie das passieren konnte, und ich habe erst recht nicht darum gebeten! Deswegen hast du noch lange nicht das Recht, so über mich herzuziehen! Ich bin vielleicht kein Unschuldsengel, aber es gibt auch schlechtere Kandidaten für diesen Posten, sieh's ein!"
Erschrocken klappte ich den Mund auf, doch mir fiel nichts gegen seine Worte ein, also klappte ich ihn gleich wieder zu.
Ich war es gar nicht gewohnt, dass Potter sich so gegen mich verteidigte. Normalerweise ließ er alles mit einem arroganten Grinsen an sich abprallen und haute am Ende einen coolen Spruch raus. Doch diesmal schien er ehrlich aufgebracht zu sein. Aber ich hatte doch recht, oder? Niemand der noch bei Trost war, hätte James Potter zum Schulsprecher gemacht!
Sirius und ich verfolgten stumm, wie James aufstand, sich nachdenklich durch die Haare wuschelte und aufgelöst im Essbereich auf und ab ging.
„Merlin, hoffentlich ist Remus nicht allzu enttäuscht, dass er den Posten nicht bekommen hat ...", redete er vor sich hin. Abrupt stoppte er.
Zum ersten Mal seit er den Brief geöffnet hatte, breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus. „Ich bin Schulsprecher! Ich kann den Slytherins Punkte abziehen!"
Ich verdrehte die Augen, während Sirius sich lachend erhob und seinem Kumpel auf die Schulter klopfte.
„Gratulation, Prongs. Euch beiden", fügte er mit einem Blick zu mir hinzu. Ich nickte nur mechanisch. Die Freude über meine Ernennung war schon lange verpufft. Reichte es nicht, dass ich den Rest meiner Ferien mit Potter verbringen musste? Jetzt sollte ich auch noch mit ihm zusammen die Pflichten eines Schulsprechers erfüllen!
Merlin hasste mich. Das würde ja ein wunderbares Schuljahr werden.

Die Regel - Lily& James Ff ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt