Kapitel 69

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Sirius verließ die Bibliothek eine halbe Stunde später wieder, unter dem Vorbehalt, jetzt lernen zu müssen.
Ich musste ihn nicht allzu gut kennen, um zu wissen, dass er sich in Wahrheit einfach nur in die Küche schleichen würde.
Einen Vorwurf konnte ich ihm da allerdings nicht machen, ich war selbst ziemlich hungrig. Und müde.
Es war längst dunkel, als ich schließlich die schwere Tür der Bibliothek hinter mir schloss.
Gähnend überlegte ich, im Anschluss gleich noch einen Rundgang durch das Schloss zu machen, doch bei der Erinnerung an meine letzte Patrouille lief es mir immer noch kalt den Rücken hinunter, also ließ ich es bleiben.
Mit ängstlich hochgezogenen Schultern und den Zauberstab fest umklammernd machte ich mich auf den Rückweg.
Mein Unterbewusstsein sagte mir schon, dass es ein Wunder wäre, wenn ich diese Nacht ohne jegliche Vorfälle überstehen würde, doch ich ignorierte es wie so oft.
Man sollte doch Vertrauen in die Welt haben, oder nicht?
Entschlossen lockerte ich meine Haltung und versuchte nicht mehr allzu pingelich darauf zu achten, beim Gehen keine Geräusche von mir zu geben.
Einige berühmte Persönlichkeiten, die in ihren Rahmen an der Wand zu schlafen versuchten, blinzelten mich missbilligend an, wenn ich mit der erleuchteten Spitze meines Zauberstabes an ihnen vorbeilief, aber sonst blieb es zu meiner großen Erleichterung ruhig.
Beinahe hätte ich aufgeatmet: Nur noch eine Treppe runter, und ich könnte ohne Zwischenfälle James' und meine Wohnung erreichen...
Aber natürlich hatte ich mich zu früh gefreut.
So viel zum Vertrauen in die Welt.
Da hatte ich mein Vertrauen wohl falsch gesetzt, wie damals bei Snape.
Der sich im Übrigen gerade händeringend zu mir umdrehte.
Ganz offensichtlich hatte er mir aufgelauert – diesmal ohne seine kleine Todesser-Bande.
Unwillkürlich schloss sich meine Faust fester um den dünnen Holzstab in meiner Hand. Das hatte mir gerade noch gefehlt.
„Ein falsches Wort, ein Schritt näher und ich verhexe dich, bis du kopfüber in der Luft hängst und man deine Unterhose sieht, Snape", zischte ich ihn kalt an.
Ein kleiner Teil von mir registrierte, wie fertig er aussah: dunkle Ringe lagen unter seinen schwarzen Augen, das Haar war strähniger denn je und er sah beinahe ... reuevoll aus.
Ich erinnerte mich gut an den letzten Moment, als er mir so gegenübergetreten war: In der fünften Klasse, als Mary mich aus unserem Schlafsaal geholt hatte, weil er vor dem Porträtloch stand. Um sich zu entschuldigen.
„Lily", keuchte Snape leise. „Lily, ich... es tut mir..."
Nein, ich würde ihm nicht mehr verzeihen. Nie wieder.
Es war eine Sache, die Klappe zu halten, wenn seine Freunde mich beleidigten oder mir leere Drohungen machten. Aber es war etwas ganz anderes, die Klappe zu halten und nichts zu tun, während seine „Freunde" dabei waren, mich zu betatschen.
Ich war für zweite Chancen und ich suchte in jedem Menschen etwas Positives.
Allerdings war ich auch sehr nachtragend.
Und irgendwann war die Grenze ganz einfach überschritten.
„Spar dir deine Worte", schnitt ich ihm daher kalt das Wort ab. „Du bist ein Feigling, Snape, ganz einfach. Würdest du jemals den Mut haben dich vor deiner Bande bei mir zu entschuldigen? Würdest du es gar nicht erst dazu kommen lassen, dass du dich für irgendetwas entschuldigen musst? Nein, würdest du nicht. Geh einfach, Snape, ich bin durch mit dir."
Das beklemmende Gefühl in meiner Magengegend ignorierend machte ich einen Schritt auf ihn zu, um an ihm vorbeizurauschen.
Obwohl ich dabei mindestens einen Meter Abstand von ihm hielt, erwischte Snape meinen Ellbogen und hielt mich zurück.
„Warte, Lily...."
„Fass mich nicht an!"
Ich musste einen hysterischen Schrei unterdrücken. Die Art, wie er mich festhielt, der dunkle Korridor, das alles erinnerte mich zu sehr an unsere letzte Begegnung.
Mit Mulciber.
Rasch zog Snape seine langen, dünnen Finger zurück.
Aber statt mich gehen zu lassen, machte er noch einen Schritt auf mich zu.
Seine schwarzen Augen huschten hastig hin und her, während er mit einer fahrigen Handbewegung sein Haar aus den Augen strich.
Seine ganze Haltung drückte aus, was ich fühlte: Anspannung. Stress. Unbehagen.
Nur war ich mir ziemlich sicher, dass Snape eher Angst davor hatte, dass jemand etwas von unserer Unterhaltung mitbekam.
Meine Angst konzentrierte sich ganz auf ihn.
Lediglich meine ausgestreckte Zauberstabhand hielt ihn noch auf Abstand.
„Bitte, Lily, hör mir zu", flehte er.
„Nenn mich nie wieder Lily", knurrte ich, blieb aber, wo ich war.
Gut, ich hörte zu, solange er mich danach in Ruhe ließ.
„Was hat eine ehrlose Schlange wie du mir zu sagen?"
Ungerührt starrte ich ihn an. Er schluckte nervös und schob sich wieder mit zitternden Fingern die Haare hinters Ohr.
Vielleicht waren sie deswegen so fettig: weil er die ganze Zeit seine Schweißfinger an ihnen abwischte.
„Ich wollte nicht, dass Mulciber dich anfasst. Auf keinen Fall. Das würde ich nie wollen. Ich hätte eingreifen sollen. Es ist nur so, dass ... Ich kann nicht ... sonst..."
Er verstummte, den Kopf gesenkt.
Merkte er also selbst wie armselig seine „Entschuldigung" war?
„Sonst was? Sprich es doch aus, Severus. Sonst schmeißen sie dich aus ihrem kleinen Todesser-Club raus, oder was? Okay, gut, du hast dich für ihre Seite entschieden. Das ist mir doch sowas von egal. Allerdings scheinst du nur ganz einfach kein Rückgrat zu haben, oder warum kreuzt du noch bei mir auf, nachdem du dich ganz klar gegen unsere Freundschaft entschieden hast?!"
Im schwachen Schein meines Zauberstabs konnte ich erkennen, wie Snape sich fest auf die Unterlippe biss. Seine Schneidezähne hinterließen blutige Kerben in der Haut.
Doch ich war zu wütend und verletzt, als dass ich mir deswegen Gedanken gemacht hätte.
„Ich... Ich wollte nicht..." Snapes Stimme brach gegen Ende.
Er sah wirklich fertig aus.
Doch das war immer noch kein Vergleich zu mir nach Mulcibers Belästigung.
„Weißt du was, Snape? Denk doch mal über die Definition von Arschloch nach. Vielleicht findest du dabei zufällig dich selbst."
Für einen kurzen Moment starrten wir uns direkt in die Augen, grün in schwarz.
Mein Blick eiskalt, seiner undeutbar.
Dann trat er einen Schritt zurück und ich merkte, wie meine Muskeln sich etwas entspannten.
Ich schüttelte meine Handgelenke aus und machte mich bereit zum Gehen.
Ich war bereits drei Schritte gelaufen, als ich nochmal seine Stimme vernahm.
„Du wirst mir nie mehr verzeihen, oder?"
Seine Frage klang aufrichtig enttäuscht, schuldbewusst und ...traurig.
Es überraschte mich und irgendwie traf es mich auch direkt ins Herz.
Das war auch der Grund, weshalb ich mich noch einmal zu ihm umdrehte und nicht einfach meinen Weg fortsetzte.
„Nein, Severus. Ich werde dir nicht verzeihen."
Wieder sahen wir uns direkt in die Augen.
„Wir sind keine Freunde mehr", flüsterte Snape.
„Nein, sind wir nicht." Meine Stimme klang fest. „So ist das Leben, Snape. Alles ist im Fluss. Manche Bänder zerreißen, und es werden neue gestrickt. Dinge gehen verloren, und neue werden gefunden. Manchmal kann man ein Band flicken und es noch einmal versuchen, aber glaub mir, für uns gilt das nicht."
Er schwieg.
Ein paar Augenblicke lang blieb ich noch stehen, um ihn zu betrachten, wie er da zusammengesunken im Gang stand.
Ich suchte in mir nach etwas wie Mitleid oder einem Rest Sympathie- aber da war nichts mehr.
Und da wusste ich: Ich hatte die richtige Entscheidung getroffen.
Also drehte ich mich auf dem Absatz um und ließ Snapes Silhouette hinter mir.
Ein für alle mal.

Die Regel - Lily& James Ff ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt