Kapitel 114

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Ich fand James am Rand des Quidditchfeldes, wo er im Gras saß und sein Gesicht in die wärmende Frühlingssonne hielt.
Er hatte die Augen geschlossen und eine bequeme Position eingenommen, doch wenn man genauer hinsah, wirkte er alles andere als entspannt.
Zwischen seinen Augenbrauen zeichnete sich eine tiefe Furche ab und er bewegte die Lippen flüchtig, so als würde er vor sich hinmurmeln.
Ich blieb kurz stehen und betrachtete ihn.
James war in den letzten Monaten nochmal um ein paar Zentimeter gewachsen, was ihn schlanker wirken ließ. Zugleich hatte sich das ständige Training gelohnt, denn unter dem weißen Schulhemd zeichneten sich deutlich die Muskeln ab.
Die Frühlingssonne hatte die winterliche Blässe aus seinem Gesicht vertrieben.
Alles in allem hatte James in meinen Augen nie besser ausgesehen.
Wenn er doch nur lächeln würde.

„Lils, ich hab dich gehört", unterbrach James meine Gedanken, ohne sich dabei umzudrehen. „Du kannst ruhig herkommen, wenn du schonmal da bist."
Ich biss mir auf die Unterlippe und schluckte einen bissigen Kommentar herunter.
Bloß nicht angepisst in ein Konfliktgespräch starten.
Ich rief mir Erinnerung, dass ich hier war, um mein Versehen zu entschuldigen und um die Dinge ins Reine zu bringen, und nicht, um einen weiteren Streit loszutreten.
Anschließend straffte ich die Schultern und ging langsam auf James zu.

Der Rasen fühlte sich matschig unter meinen Füßen an, und ich konnte nur unter größter Anstrengung der Versuchung widerstehen, sofort meine schwarzen Lackschuhe zu reinigen.
Warum musste man für die Schule auch so doofe schicke Schuhe tragen?
Ich bevorzugte meine Chucks.

„Wird dein Hintern nicht nass, wenn du da so sitzt?", erkundigte ich mich bei James, sobald ich neben ihm stand.
Ich setzte mich vorsorglich nicht neben ihn.
Es reichte, wenn meine Schuhe ruiniert waren.
„Du bist eine Hexe. Zauber dir halt einen trockenen Fleck", erwiderte James, immer noch mit geschlossenen Augen.
„Gute Idee", murmelte ich und befolgte seinen Rat.
Ich hockte mich neben ihn und verknotete meine Beine umständlich zu einem Schneidersitz, wobei ich darauf achtete, dass mein Rock schön alles bedeckte, was bedeckt gehörte.
Als ich damit fertig war, starrte ich unschlüssig ins Gras und suchte nach etwas anderem, was ich hätte tun können, um ja nicht das Gespräch starten zu müssen.
Leider fand ich nichts.
„Hmm", machte ich.

Danach musste ich erstmal überlegen. Eigentlich fehlten mir nie die Worte – denn häufig war ich mir meines eigenen Standpunkts sehr bewusst, hatte meine Meinung und konnte mich gegen die andere Person durchsetzen.
Doch in dieser Situation konnte ich James verstehen – Natürlich war es beschissen, zum Gespött der anderen zu werden, und das auch noch durch die eigene Freundin.
Meine einzige Ausrede war, dass ich es nicht mit Absicht getan hatte.
Allerdings änderte das nichts an dem Ausgang der Geschichte.

„Hmm", machte auch James, als von meiner Seite nichts mehr kam.
„Hmmm." Ich lächelte ein bisschen.
„Hmmmm", machte er, öffnete endlich die Augen und fixierte mich.
Eine Weile lang sagte keiner etwas, wir schauten uns einfach nur an.
Mir wurde bewusst, wie lange James und ich schon keinen Moment wie diesen mehr geteilt hatten.
Einfach allein, einfach nur zu zweit, einfach in Ruhe ohne den ganzen Trubel des Alltags um uns herum.
Unsere Zweisamkeit war in dieser Zeit viel zu kurz gekommen – und klar, daran trug niemand wirklich die Schuld, aber dennoch tat es mir leid, dass wir so wenig miteinander teilten, obwohl wir einander so viel bedeuteten.

Ich wandte den Blick von James ab, winkelte die Beine an und stützte den Kopf auf meine Knie. So schaute ich in die Ferne, die Augen auf nichts Bestimmtes gerichtet.
Ich spürte, wie James mich von der Seite her ansah.
„Du hast wieder Sommerspr0ssen", brach er schließlich das Schweigen.
Ich rümpfte die Nase. „Na super."
„Ist doch süß."
Ich zuckte unbehaglich mit den Schultern. James verunsicherte mich.
Eben war er noch wütend aus der Großen Halle gestürmt, und nun saß er vollkommen ruhig hier neben mir und machte mir Komplimente?

Vorsichtig schielte ich zu ihm herüber.
James hatte seine Position verändert – er lag halb im Gras, die Beine weit von sich gestreckt, die Arme angewinkelt, um sich abzustützen.
Er betrachtete seine Fußspitzen und sah inzwischen vollständig entspannt aus.
„Bist du nicht sauer?", platzte es aus mir heraus.
Wow, soviel zu „niemals voreilig in einen Konflikt starten".
Das hatte mal wieder super funktioniert.
Bravo, Evans, bravo.

James zuckte mit den Schultern, was seltsam aussah, da er die Arme benötigte, um sich zu halten.
„Natürlich bin ich sauer, dass die Slytherins ein wahnsinnig peinliches Bild von mir herumgezeigt haben und ich zum Gespött der gesamten Schule geworden bin. Aber im Grunde wäre es nicht fair, dir die Schuld daran zu geben."
„Aber ... Ich habe das Bild doch mit hierher geworden", sagte ich, ziemlich fassungslos und eher kontraproduktiv.
Er war nicht wütend auf mich und was machte ich? Versuchte, ihn gegen mich aufzubringen. So war das irgendwie nicht geplant gewesen.
James hatte mich einfach überrumpelt.
Ich hatte fest mit einem – berechtigten – Wutausbruch gerechnet.
„Schon, aber du wolltest es offensichtlich nicht verlieren. Und du hast es unter Einsatz einer Gabel zurückerobert."
Bei diesen Worten drehte er den Kopf zu mir und lächelte mich an. „Ziemlich guter Stich, übrigens. Ich wette, Mulciber musste in den Krankenflügel."
Ich erwiderte sein Lächeln. „Danke."

Unsere Hände, die bisher nebeneinander gelegen hatten, fanden den Weg zueinander.
James verschränkte seine Finger mit meinen und seufzte erleichtert.
„Verzeihst du mir?", fragte ich flüsternd.
Er drückte meine Hand. „Klar. Aber eins musst du mir verraten ... Was zur Hölle hattest du denn mit dem Bild vor? Sag mir bitte nicht, dass dich das Foto irgendwie inspiriert hat."
„Ehrlich gesagt wollte ich es als Druckmittel verwenden, damit du endlich mal wieder mehr Zeit mit mir verbringst", nuschelte ich beschämt. „Wahrscheinlich eine dumme Idee."
„Du hättest mich auch einfach ganz normal darum bitten können."

„Das wäre aber gegen meinen Stolz gewesen. Und außerdem bist du doch eh immer zum Training gegangen. Sogar, wenn ich heulend an deinem Bein hing!", beschwerte ich mich.
James hob die Hände. „Hey, ich habe dir gerade verziehen, dass du ein Foto verloren hast, auf dem man mich beim Pinkeln sieht! Also beschuldige mich bitte nicht gleich. Das kannst du machen, wenn Gras über die Sache gewachsen ist."
„Siehst du, das meine ich", knurrte ich. „Du gehst gar nicht darauf ein. Willst du überhaupt noch Zeit mit mir verbringen?"
Ich konnte es nicht verhindern, dass meine Stimme gegen Ende des Satzes ein wenig ins Weinerliche abrutschte.
So ungern ich es auch zugab, ich vermisste James.
Und es wurmte mich, dass ich ihm nicht so sehr zu fehlen schien wie andersrum.

Doch James ließ keinen Platz für Zweifel: Er rutschte an mich heran und schloss mich in die Arme.
Ich entspannte mich automatisch, als ich seine Lippen auf meinem Scheitel spürte.
Er küsste mich nochmal aufs Haar, bevor er meinte: „Natürlich, Krümelchen. Tut mir leid, dass ich mich in letzter Zeit so wenig um dich gekümmert habe. Ich gelobe Besserung."
Ich legte den Kopf in den Nacken, damit ich ihn ansehen konnte.
„Versprochen?"
„Großes Indianer- Ehrenwort."
James hielt mir seinen Zeigefinger hin und ich verhakte meinen mit seinem.

„Ich will ja nicht das Mädchen verlieren, dem ich seit einer Ewigkeit hinterherrenne", murmelte James, wobei er seine Stirn an meine legte.
„Du kannst mir gleich wieder hinterherrennen. Es wird langsam kalt."
Mit diesen Worten sprang ich ohne Vorwarnung auf und sprintete in Richtung Schloss.
„Du miese Ratte!"
James nahm die Verfolgung auf.


Corona - Kapitel für euch :)
Bleibt gesund
Karla 🌎✈️💓

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