Kapitel 42

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„Lily Evans! Mach doch endlich die verdammte Tür auf!"
Marlene, Mary oder auch Dorcas.
Mein Kopf war unter einem riesigen Kissen vergraben, daher konnte ich nicht genau ausmachen, wer von den dreien nun schon wieder anklopfte.
„Klopfen" ist dabei noch nett ausgedrückt. Eigentlich war das zaghafte Anklopfen längst einem ungeduldigen Hämmern gewichen.
Bis etwa zwölf Uhr hatten sie mich noch in Ruhe gelassen. Schließlich hatten sie von gestern noch einen Rausch auszuschlafen. Doch dann hatte das Ganze angefangen.
Zunächst wollten sie wissen, ob ich schon wach war.
Keine Antwort.
Also hatten sie eine weitere Stunde gewartet, bis eins. Da sollte man wohl langsam mal aufstehen, fanden sie.
Mittlerweile war es halb drei und meine Freundinnen machten sich wahrscheinlich große Sorgen- zumindest war es das, was sie ständig durch die verschlossene Tür riefen.
Das Passwort kannten sie nicht – heute war der erste November, also war es erst frisch geändert worden, dank eines praktischen Zaubers, den ich auf die Tür gelegt hatte.
Wie dankbar ich James war, dass er sie nicht offenstehen gelassen hatte, als er irgendwann in der Nacht wieder in sein eigenes Zimmer zurückgekehrt war.
Keine Ahnung, wie er das gemacht hatte, aber durch ihn hatte ich einigermaßen ruhig einschlafen können.
Am liebsten hätte ich den ganzen Tag verschlafen.
So musste ich mich nur wieder dem riesigen Loch in meiner Brust stellen.
Ich hatte mein Zuhause verloren.
Was Petunia gerade in unserem Haus anstellte, wollte ich gar nicht wissen. Wie es ihr wohl ging?
Das war das erste Mal seit langer Zeit, dass ich sie gerne gesehen hätte. Schmerz muss man teilen, sonst bricht er einem das Herz.
Zumindest fühlte es sich so an.
Meine Freundinnen hatten nicht Unrecht, wenn sie sich Sorgen machten.
Aber ich wollte nicht, dass sie mich so sahen.
Und erst recht nicht wollte ich reden müssen.
Sagen müssen, dass es okay sei, nur damit sie sich besser fühlten.
Ich wollte mich einfach nur verkriechen, ich wollte genauso elend aussehen, wie ich mich fühlte, ich wollte nicht an andere denken, ich wollte keine mitleidigen Blicke.
„Lily, was ist los?! Bist du da drinnen gestorben oder was?"
Ich zuckte zusammen.
Ganz schlimmer Fehler.
Die Worte waren wie ein Schlag in die Magengrube. Nicht ich war gestorben. Leider.
Warum hätte es nicht ich sein können? Es war nicht fair, so früh seine Eltern zu verlieren. Ich brauchte sie doch noch.
Viel mehr, als ich ihnen gezeigt hatte.
Vor der Tür wurde nun eine neue Stimme hörbar.
„Was ist denn hier los?"
James. Vermutlich kam er vom Quidditchfeld.
Ich grub mich tiefer in meine Kissenburg.
Gedämpfte Stimmen. Irgendwer sagte etwas von „Lily" und „nicht rauskommen".
Stille.
Dann James: „Mädels, lasst sie in Ruhe. Es war spät gestern und ich hab sie dann noch mit Schulsprecherkram genervt... bestimmt braucht sie nur ein bisschen Zeit für sich."
„Woher willst du das denn wissen? Du hast seit Monaten kein Wort mehr mit ihr gewechselt, und so eine stille Lily ist nicht normal! Wir werden ganz sicher nicht gehen", ereiferte sich jemand, den ich ganz klar als Marlene identifizierte.
„Und was, wenn sie möchte, dass gerade niemand mit ihr redet?"
„Warum sollte sie das denn wollen?", fragte Marlene schnippisch, als wäre es ihr unvorstellbar, dass es Leute gab, die nicht pausenlos reden wollten. „Habt ihr euch etwa gestritten oder so?"
James lachte, und ich konnte durch die verschlossene Zimmertür hören, dass es kein echtes Lachen war.
„Das fragst du? Lily und ich streiten uns doch dauernd. Das sollte nun wirklich nichts Ungewöhnliches sein. Aber nein, gestern haben wir uns nicht gestritten. Vielleicht hat sie ja ihre Tage oder so. Oder sie lernt, da kriegt sie doch immer nichts von der Außenwelt mit."
Es folgte wieder eine kurze Stille.
„Sobald sie auch nur einen kleinen Mucks von sich gibt, gibst du uns Bescheid, verstanden? Am Ende hat sie sich den Magen verdorben und kotzt sich da drinnen die Seele aus dem Leib", grummelte Marlene mit einem sarkastischen Unterton.
„Klar", gab James eben so spöttisch zurück. „Und jetzt bitte raus aus meiner Wohnung."
„Oh-ho, der Herr hat gesprochen", schnaubte Dorcas. Oder war es Mary? Die beiden schrien nicht so wie Marlene, daher war es schwierig, ihre Stimmen voneinander zu unterscheiden. An sich passte dieser Satz aber eher zu Dorcas.
„Wir gehen ja schon. Und James: Deine Quidditchuniform ist zu eng. Ist ja toll, dass du stolz auf deine Bauchmuskeln bist, es muss sie trotzdem nicht jeder sehen. Genauso wenig wie deine..."
„Wenigstens gehe ich überhaupt zum Training", unterbrach James Marlene, nur um sie daraufhin erneut und ein wenig entnervt aus dem Zimmer zu bitten.
Fußgetrappel, Gemurmel, dann endlich Ruhe.
Ich hob den Kopf und starrte die Zimmertür an.
James seufzte. Ich wusste, dass er sich gerade durch die Haare fuhr, vermutlich mit einem müden Ausdruck im Gesicht, und schiefsitzender Brille.
Es klopfte. Leise und vorsichtig.
„Krümel?"
Ich hielt den Atem an und sagte nichts.
„Lily, ich weiß du willst nicht, aber die drei haben recht, weißt du. Du solltest rauskommen. Und was essen."
Ich schüttelte stumm den Kopf, obwohl er das nicht sehen konnte.
Wieder ein Seufzer. „Komm schon, mach mir wenigstens die Tür auf."
Ich rührte mich nicht.
„Lily. Bitte."
„Ich will niemanden sehen, James."
Ich zuckte beim Klang meiner eigenen Stimme zusammen. Noch nie hatte ich mich so verletzt und schwach angehört.
Sogar meine Stimme war nur ein Schatten meiner selbst, leise und kläglich.
Da bekam man ja glatt Selbstmitleid.
„Vielleicht will ich dich aber sehen, Lily", sagte James leise, aber so, dass ich es gerade noch hören konnte.
Seine Worte lösten schon wieder irgendetwas in mir aus. Meine Unterlippe fing an zu beben und ich wusste, ich würde gleich wieder zu weinen beginnen.
„Willst du nicht", flüsterte ich mit gebrochener Stimme.
Wer wollte mich so schon sehen? Wer wollte mich so schon ertragen?
Ich wollte mich ja nicht einmal selbst ertragen.
„Doch. Komm schon Lily, komm her. Du bist nicht allein, weißt du? Du hast immer noch Freunde ... und wir sind doch Freunde. Ich bin für dich da."
Irgendwie krabbelte ich aus dem Bett und rannte zur Tür.
Ich riss sie auf und starrte James aus blutunterlaufenen Augen an.
Er schaute zu mir runter. Ich erwartete Ekel oder auch Abscheu, so hatte ich nämlich auf mein Spiegelbild reagiert, aber nichts davon.
Er sah traurig aus.
„Du weinst", stellte er fest.
Ach was. Hätte ich jetzt gar nicht gemerkt.
Ich nickte nur.
Und irgendwie landete ich schon wieder in seinen Armen.

Die Regel - Lily& James Ff ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt