Kapitel 30

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Ich rutschte unbehaglich auf meinem Stuhl hin und her.
Remus fixierte mich immer noch genau, und ich dachte über seine Frage nach.
Hatte ich Angst davor, Gefühle für James Potter zu entwickeln, die nicht negativ waren?
Ich seufzte.
„Es ist nicht so einfach", sagte ich und starrte unangenehm berührt aus dem Fenster.
„Lily, ich will dir nicht einreden, dass du Gefühle für James hast oder so. Erklär mir nur mal, was dich so von ihm abstößt. Abgesehen von den offensichtlichen Gründen, die du ihm immer an den Kopf wirfst." Er schmunzelte leicht.
„Weil er eben James Potter ist." Ich lehnte mich zurück und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust, wie ein kleines Kind, dem man sein Spielzeug weggenommen hatte.
„Und was heißt das?" Remus wollte einfach nicht lockerlassen.
„Ich habe Angst!", platzte ich heraus. „Verdammt!" Ich funkelte wütend die Tischplatte an.
„Lily. Wovor hast du denn Angst?", fragte Remus leise.
„Na ja." Ich verhakte meine Finger ineinander und vermied es, den Blick zu heben.
„Stell dir James vor wie ... wie eine heiße Tasse Tee. Ich möchte gerne einen Schluck nehmen, weil die Wärme und der Duft mich ... möglicherweise... anzieht. Aber gleichzeitig habe ich schrecklich Angst, mich bei einem Versuch zu verbrennen. Macht das überhaupt Sinn? Was rede ich hier eigentlich? Es geht um James Potter!"
Verzweifelt vergrub ich mein Gesicht in meinen Händen.
Nein, nein, nein, das durfte nicht wahr sein. Was erzählte ich denn hier?
Plötzlich hatte ich das dringende Bedürfnis, allein zu sein.
Es war ein Fehler gewesen, zu Remus zu kommen.
Jetzt war alles nur noch verworrener in meinem Kopf.
Ich sprang auf. „Tut mir leid, ich muss jetzt gehen. Danke für die Schokolade!"
Und bevor der verblüffte Remus noch etwas sagen konnte, war ich aus der Bibliothek gestürzt.

„Scheiße!", knurrte ich. „Scheiße, Scheiße, Scheiße!"
Verdammt, warum hatte ich das gemacht? Hatte ich wirklich geglaubt, es wäre eine gute Idee, mit einem von James' engsten Vertrauten über ihn zu reden? Wie blöd konnte man sein?! Natürlich würde das alles irgendwie bei James landen. Selbst wenn Remus es nicht mit Absicht erzählte, rausrutschen würde es ihm früher oder später. Es waren die Rumtreiber! Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie Geheimnisse voreinander hatten.
Aaaaargh!
„Alraune", schnaubte ich lustlos, als ich vor dem Portrait angekommen war, hinter dem James' und meine Räume lagen. Als das Gemälde nicht sofort aufklappte, trat ich wütend dagegen.
Ich konnte es einfach nicht fassen, dass ich Remus Dinge erzählt hatte, die ich ja nicht mal mir selbst eingestehen wollte! Und hatte ich James ernsthaft mit einer Tasse Tee verglichen? Wie tief konnte man sinken?
Ich war so sehr in Rage, dass ich den schwarzhaarigen Jungen in unserem Gemeinschaftsraum komplett übersah.
„Warum bin ich so eine blöde Kuuuuuh!", jammerte ich und ließ mich dramatisch auf das Sofa sinken. Ich strampelte mit den Beinen und wollte anfangen, auf eines der Kissen einzuschlagen, als James mir plötzlich ins Auge fiel.
Ich starrte ihn an.
„Oh, bei Merlin", seufzte ich dann. Heute war einfach nicht mein Tag.
„Warum bist du nicht mehr im Krankenflügel?", fauchte ich James an. Mich machte gerade einfach alles rasend vor Wut. Alles.
„Ähm... ich konnte Mme Pomfrey überreden, mich eher gehen zu lassen?", sagte er, doch aufgrund der Verwirrung in seinen braunen Augen klang es eher wie eine Frage.
„Scheiße", murmelte ich. So plötzlich wie meine Wut gekommen war, war sie auch wieder verschwunden. Zurück blieb nur ein Gefühl von Müdigkeit und völliger Überforderung. Warum musste das Leben auch immer so kompliziert sein?
Warum konnte man sich nie darauf vorbereiten, wie zum Beispiel auf einen Test?
Heiliger Kürbiskuchen.
„Ähm, Lily? Ich will dich ja nicht in deiner sehr emotional belasteten Phase stören, aber... was genau ist eigentlich los?"
James fuhr sich durch seine strubbeligen Haare und vermied es, mich anzusehen, woraus ich schloss, dass es ihn einige Überwindung kostete, mich das zu fragen.
Er war immer noch wütend, verletzt, enttäuscht, was auch immer, aber trotzdem musste er mich fragen, wie es mir ging.
Das war ... es war... schon süß.
Ich holte tief Luft, dann stand ich schwungvoll auf und rannte auf ihn zu. Seine Augen weiteten sich überrascht, als ich mich ihm mit voller Wucht in die Arme schmiss.
Ich umarmte James Potter.
Und es fühlte sich verdammt gut an.
Ich vergrub mein Gesicht an seiner Brust und schlang die Arme ganz fest um seinen Hals. Sein Duft, den man einfach nicht beschreiben konnte, der einfach James war, stieg mir wieder in die Nase und ich atmete tief ein. Ich spürte, wie ich mich langsam beruhigte.
Nichts half besser als eine Umarmung.
Zuerst machte James gar nichts. Er stand einfach nur da und war völlig von den Socken. Doch dann spürte ich, wie er vorsichtig eine Hand hob und über meinen Rücken strich. Der andere Arm legte sich um meine Taille und zog mich noch fester an ihn. Er vergrub seinen Kopf in meinem Haar. Ich schmunzelte ein bisschen.
Für diesen einen Moment schob ich all meine widersprüchlichen Gefühle für James Potter einfach nur beiseite und genoss nur den Moment.
„James? Es tut mir leid", nuschelte ich, mit dem Gesicht an seine Schulter gepresst.
Im nächsten Moment wusste ich, dass das das Falsche gewesen war.
James versteifte sich zuerst und schob mich dann sanft aber bestimmt von sich.
Wir starrten uns an, ich völlig verwirrt und auch etwas enttäuscht, seine dunklen Augen hinter der Brille undeutbar.
„Ich kann dir nicht glauben, Lily. Noch nicht."
Mit diesen Worten drehte er sich um und zog sich zurück in sein Zimmer. Benommen starrte ich ihm hinterher und betrachtete sein breites Kreuz, bis seine Zimmertür hinter ihm zuschlug.
Ich blieb wo ich war und hielt die Augen weiter auf die Stelle fixiert, wo er eben noch entlanggegangen war, und versuchte zu begreifen, was eben passiert war.
Hatte ich wirklich ... hatte ich ihn wirklich umarmt? Hatte ich mich wirklich entschuldigt? Einfach entschuldigt, ohne mich zu rechtfertigen oder an meinem Standpunkt festzuhalten?
Das alles schien so untypisch für mich.
Ich musste an meinen waghalsigen Flugversuch denken.
Okay, mein komplettes Leben war aus den Fugen geraten.
Und das war mal wieder alles James Potters' Schuld.
Problem: Ich konnte ihm einfach nicht mehr böse sein. Es war verrückt, aber ich wollte diese entspannte Atmosphäre aus den Ferien wieder zurück.
Bei Merlin. Warum musste es sich auch so schön anfühlen, ihn zu umarmen?

Sind Umarmungen nicht das Beste auf der Welt?😍

Die Regel - Lily& James Ff ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt