Kapitel 102

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Unter einigem Gezerre schaffte James es schließlich, unsere Tasche aus dem Schnee zu befreien, allerdings in sehr nassem, schwerem Zustand.
„Sorry", entschuldigte ich mich halbherzig, nur um gleich hinterherzuschieben: „Bist aber selbst schuld."

Meine kurze Phase der Hochstimmung und Motivation während der Schneeballschlacht hatte sich schon längst wieder verflüchtigt.
Mir war kalt, meine Klamotten klebten nass an mir und ich konnte mir nicht vorstellen, was James denn so Tolles für mich bereithalten würde.
Noch dazu hatte der Himmel sich wieder verdunkelt und es sah nach einem weiteren Schneesturm aus.
Trotzig wie ein kleines Kind saß ich in meiner Schneekuhle.
Ich bewegte mich erst vom Fleck, als James mich unter einigem Geächze auf die Beine gestellt hatte, und selbst dann folgte ich ihm nur widerwillig durch den Tiefschnee.

Nach einem schier endlosen Spaziergang durch die schwere Schneedecke kamen wir schließlich bei einem der Hügel an, die sich hier und da aus dem Weiß erhoben.
Erst jetzt fiel mir auf, dass es aus dem Hügel rauchte.
Meiner eigenen Zurechnungsfähigkeit nicht trauend kniff ich die Augen zusammen und starrte den Rauch an, der ganz klar aus dem Schneehügel kam.
Doch egal wie lange ich hinsah, er wollte nicht verschwinden.
„James", flüsterte ich, „raucht der Hügel da wirklich?"

James warf mir erst einen ungläubigen Blick zu, dann fing er an zu lachen.
„Ja, Süße, da kommt wirklich Rauch aus dem Hügel. Aber nicht der Hügel selbst raucht. Komm, ich zeig's dir."
Er winkte mir mit einer Hand und bedeutete mir somit, ihm zu folgen, mit der anderen drückte er die plumpe Reisetasche fest an sich.
Ich stakste hinter ihm durch den Schnee, den Blick fest auf sein breites Kreuz gerichtet.
Dabei fragte ich mich, wie er sich in einem vollgesogenen Schneeanzug, der sicher wahnsinnig schwer war und aus dem es tropfte, immer noch so anmutig vorwärtsbewegen und dabei verdammt gut aussehen konnte.
Ich beschloss, dass James irgendwelche Veela- Vorfahren haben musste.
Anders machte das alles keinen Sinn.
Vielleicht war ich aber auch einfach nur erschöpft und leicht zu beeindrucken.

James, der zum Glück nichts von meinen Überlegungen wusste, führte mich derweilen um den Schneehaufen herum und fing auf der anderen Seite an, mit der freien Hand die Schneewand zu bearbeiten.
„Was genau machst du da?", wollte ich irritiert wissen.
„Ich klopfe den Schnee herunter."
„Äh, James, du kannst nicht Schnee von einem Schneehaufen runterklopfen."

Doch James ließ sich nicht beirren, er schlug weiter kontinuierlich auf den Hügel ein.
Staunend beobachtete ich, wie unter der Schneedecke tatsächlich etwas anderes als noch mehr Schnee sichtbar wurde: Zunächst nur braun, dann eine Holzplanke, und zum Schluss eine ganze Tür.
„Wahnsinn!", flüsterte ich mit großen Augen.
Mein Missmut und meine müden Glieder waren vergessen.
Aufgeregt schaute ich zu James auf. „Was ist dahinter? Können wir mal gucken?"
Er lächelte mich liebevoll an.
„Na los, mach einfach die Tür auf."

„Oh mein Gott, das ist so spannend!" Neugierig schob ich mich an James vorbei und drehte vorsichtig an dem silbernen Knauf, der in die Holzplanken eingelassen war.
Zu meiner Überraschung schwang die Tür quasi sofort auf und gab den Blick auf das gemütliche Innere einer kleinen Holzhütte frei.
Völlig ergriffen starrte ich hinein.
Die Hütte, die von außen vollständig unter dem Schnee verschwunden war, bestand aus einem einzigen, kleinen Raum, der allerdings von einem zentralen, vor sich hin rauchenden Kamin erwärmt wurde.
Um den Kamin lagen haufenweise Decken und flauschige Kissen, außerdem konnte ich ein Tablett mit etwas Geschirr, einer Schüssel und Besteck entdecken.

„Wow, ist das toll", flüsterte ich, völlig von den Socken.
„Und du warst noch nicht einmal drinnen", kam es von James.
Er bugsierte mich sanft in den kleinen Raum.
Ich ließ ihn widerstandslos gewähren, wobei ich spürte, wie die Wärme in der Hütte jetzt schon die Nässe aus meiner Kleidung zog.
„Kopf zur Decke", wies James mich an.
Ich befolgte seine Anweisung und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus: Über uns war ein Teil des Hüttendachs verglast, sodass man einen freien Blick auf die weiße Schneedecke darüber hatte.
Im Sommer musste man hier eine wundervolle Aussicht auf den Sternenhimmel haben.

Sprachlos drehte ich den Kopf zu James.
Da es mir an Worten mangelte, strahlte ich ihn nur an.
Er erwiderte mein Lächeln und schien sichtlich erfreut, dass mir der Abschluss unseres Dates nun doch gefiel.
„Ich bin früher, als kleiner Junge, häufig mit meinem Großvater hier gewesen, wenn meine Eltern arbeiten mussten", erzählte er, während er sich aus seiner nassen Kleidung schälte und mir bedeutete, das Gleiche zu tun. „Keine Ahnung, wie lange es diese Hütten schon gibt und wer alles davon weiß, aber es ist einfach wunderschön hier drinnen."
„Das ist es wirklich", pflichtete ich ihm bei. Ich drückte James einen langen Kuss auf den Mund. „Danke, dass du mir diesen Ort gezeigt hast, James."
Er legte seine Arme um mich und zog mich noch näher zu sich, um mir seinerseits einen Kuss zu geben.
„Gerne doch, Krümel", murmelte er, als wir uns irgendwann wieder voneinander lösten.

Den Rest des Tages verbrachten wir eingekuschelt in die flauschigen Decken, die überall in der Hütte verstreut lagen, und kochten uns aus etwas Schmelzwasser mithilfe des Kamins Tee, der sich mit auf dem Tablett voller Tassen und Kannen befunden hatte.
Wir redeten und lachten manchmal minutenlang, ich massierte James, der die nasse Reisetasche wohl doch nicht ganz so mühelos geschleppt hatte, und manchmal lagen wir auch einfach nur Arm in Arm da und schwiegen.

Als wir uns wieder nach draußen kämpften, war es schon längst dunkel und von der weißen Schneelandschaft war nichts mehr zu erkennen.
Lediglich ein paar weitere Hügel, die andere Hütten darstellten, wie ich jetzt wusste, ließen sich noch schemenhaft erahnen.
„Wir müssten von hier aus apparieren können", sagte James, der hinter mir aus der Hütte getreten war und sorgfältig den Türknauf rumdrehte, damit die Tür geschlossen blieb.
„Mach du", sagte ich, drehte mich um und klammerte mich an James.
Er prustete belustigt. „Das ist aber kein Seit-an-Seit-Apparieren."
„Das ist halt meine Art zu apparieren. Solange ich dich berühre ist doch alles gut."
James stupste mir mit einer routinierten Geste auf die Nasenspitze.
„Ist da jemand müde?", fragte er.
Ich gähnte ausgiebig zur Antwort.
James erwiderte meine Umarmung. „Okay, dann ab nach Hause."

Wir apparierten nach Hogsmeade und machten uns schwerfällig auf den Weg zum Schloss.
Beide waren wir ausgelaugt von dem langen Tag an der frischen Luft, außerdem war es kalt.
Trotz allem genoss ich es, Hand in Hand mit James über das Gelände zu spazieren.
Ich beobachtete ihn heimlich von der Seite, während seine Hand mich auf dem Weg hielt.
Er schaute beim Gehen auf den Boden, und ein schläfriges, aber glückliches Lächeln umspielte seine Mundwinkel.
Auf seinen langen Wimpern lagen Schneeflocken, ebenso in seinem zerzausten Haar.
In mir stieg eine wohlige Wärme auf.
Manchmal war es unglaublich für mich, dass ich so ein Glück hatte, und an seiner Seite durch das Leben gehen durfte.

Die Regel - Lily& James Ff ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt