Kapitel 120

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Am Abend humpelte ich mit wunden Füßen und schmerzenden Armen, die schweren Einkaufstüten nur noch über den Boden schleifend, den Gang zu James' und meiner Wohnung hinunter.
Mary war der Teufel höchstpersönlich gewesen.
Ich hatte 38 Paar Schuhe anprobieren müssen, zum Teil mit 15 Zentimeter Absatz („Darin könntest du James besser küssen." „Damit könnte ich jemanden ermorden!"), dazu um die 100 Kleider und passende Accessoires.
Abgesehen davon war ich sicher mit drei verschiedenen Schminkpaletten beworfen worden, bevor Mary eine Pudersorte gefunden hatte, „die zu meinem Teint passte".
Kein Wunder, dass ich mich so ausgelaugt fühlte.

Dennoch musste ich sagen, dass es schon Spaß gemacht hatte, Zeit mit meinen Mädels zu verbringen – und eins musste man Mary lassen, sie hatte das perfekte Outfit für jede von uns gefunden.
„Alraune", murmelte ich Gordric Gryffindor zu, woraufhin er kommentarlos zur Seite schwang und mich durch das Porträtloch klettern ließ.
Das war etwas, was ich an seinem Porträt so liebte: Er blökte einen nicht so voll wie die Fette Dame.
Völlig übermüdet rutschte ich durch das Loch und plumpste auf der anderen Seite zu Boden.
Einer meiner neuen High Heels (kein 15 Zentimeter Absatz, „nur" um die zehn Zentimeter) fiel mir mit einem dumpfen Geräusch auf den Kopf und kullerte dann zu Boden.
Ich stöhnte.
Legte den Kopf in den Nacken.
Und hatte das Gefühl, auf der Stelle sterben zu können.

Ein paar Minuten später kam James fröhlich summend aus dem Badezimmer, lediglich ein Handtuch um die Hüften und mit einer riesigen Dampfwolke im Rücken.
Offensichtlich hatte er soeben geduscht.
Als er mich entdeckte, fing er lauthals an zu lachen.
„Du bist so ein Idiot", erklärte ich leidend.
Er zwinkerte mir zu. „Ich weiß. Wie war euer Ausflug?"
„Sieht man das nicht?" Ich konnte nicht verhindern, dass ein hysterischer Unterton in meine Stimme gelangte.
James kam aus dem Lachen nicht mehr heraus.
„Zeigst du mir dein Kleid?", fragte er, als er sich beruhigt hatte.
Ich verdrehte die Augen. „Würde ich gerne, aber Mary hat es mir verboten. Ich glaube sie verwechselt das alles mit einer Hochzeit."

„Ich hätte nichts dagegen, dich morgen schon zu heiraten."
James hielt mir die Hände hin und zog mich auf die Beine, als ich sie ergriffen hatte.
„James, so süß das ist, lass uns wann anders darüber reden. Ich bin so müde", grummelte ich.
„Wieso? Ich meine es ernst. Lass uns heiraten, sobald wir hier raus sind."
Ich musterte meinen Freund misstrauisch.
„James, wir sind noch nicht mal ein Jahr zusammen."
„Ja, aber da draußen herrscht Krieg. Vielleicht sind wir übermorgen schon tot."
„Übermorgen sind wir noch in Hogwarts. Übermorgen ist auch noch ein Tag, an dem wir über's Heiraten reden können."
Ich wollte einfach nur noch ins Bad und den Staub der Gassen von Hogsmeade von meiner Haut waschen. Und die restliche Schminke.

Doch James hielt mich am Handgelenk zurück und drehte mich so, dass ich ihn ansehen musste.
„Komm schon, Lily", flüsterte er, und fuhr mit den Daumen unter meinen Augen entlang, wo sich sicher auch schon Augenringe bildeten. „Warum denn nicht? Willst du nicht den Rest deines Lebens mit mir verbringen?"
Er zwinkerte mir verschmitzt zu, doch ich sah, dass es ihm unter der schalkhaften Fassade trotz allem ein ernstes Anliegen war.

Ich seufzte und legte meine Hände um seine.
„James, ich liebe dich. Aber wir sind 18. Woher willst du wissen, dass du nicht doch noch jemand anderes kennenlernst? Die meisten Paare sind jahrelang miteinander zusammen, bevor sie den nächsten Schritt wagen."
„Wir sind aber nicht wie die meisten Paare."
Ich musste lachen. „Das sagen alle Paare über sich selbst, James."
Er sah enttäuscht aus und ich bekam sofort ein schlechtes Gewissen.
Also legte ich meine Hand unter sein Kinn und hob es sanft an, bis er mir wieder in die Augen sah.
„Aber okay, von mir aus können wir heiraten. Aber ich will nicht aus so einem diplomatischen Gespräch heraus plötzlich verlobt sein. Mach mir einen supertollen Antrag, dann sage ich vielleicht ja."
Mit diesen Worten drückte ich ihm einen Kuss auf die Wange und verschwand winkend im Badezimmer.

Ein paar Tage später versammelten Mary, Dorcas, Marlene und ich uns in James' und meiner Wohnung. Wir warfen jegliche Jungs und Katzen hinaus und befahlen Godric Gryffindor, niemanden hereinzulassen, selbst wenn er oder sie das Passwort kennen sollte.
Dann begannen wir uns für den Ball fertigzumachen, der in etwa drei Stunden beginnen sollte.
Ich musste zugeben, ich war wahnsinnig aufgeregt.
James und ich hatten als Schulsprecher die Aufgabe gehabt, den Ball vorzubereiten, weshalb ich natürlich schon grob wusste, was auf mich zukommen würde, dennoch war ich total gespannt auf diesen Abend.
Es war zugleich unser letzter Abend auf Hogwarts, am nächsten Morgen würde es mit dem Zug nach Hause gehen.
Alle Koffer waren gepackt, alles Organisatorische war geklärt.

Sirius und ich würden erstmal mit bei James' Eltern wohnen, bevor Sirius sich eine eigene Wohnung suchen würde und James und ich ein gemeinsames Apartment.
Das hatte James Sirius schweren Herzens verklickert – Sirius hatte es sich allerdings nicht nehmen lassen, uns zu versichern, dass er uns ständig besuchen kommen würde.
Seitdem hatte ich Angst, dass er direkt in unsere Nachbarschaft ziehen könnte.
Nicht, dass ich etwas gegen Sirius hatte, er war mein bester Freund, aber die Jahre auf Hogwarts hatten gezeigt, dass er und James auf Dauer sehr anstrengend werden könnten.
Und ich musste nicht zwei erwachsene Kinder zur Beaufsichtigung zu haben.

Während Mary mir vorsichtig die Wimpern tuschte, dachte ich an James und unser zukünftiges Leben.
Wir hatten nicht nochmal übers Heiraten gesprochen, aber ...
„Ich fürchte, dass James mir heute Abend einen Antrag machen wird", teilte ich Mary leise mit.
„WAS?", schrien Marlene und Dorcas aus der hintersten Ecke des Raumes und kamen sofort auf uns zu gerannt.
Ich verdrehte die Augen. Hier konnte man wirklich nichts für sich behalten.

Mary gab mir einen sanften Klaps auf den Arm. „Verdreh deine Augen nicht, sonst verschmiert die Schminke."
„Sorry", murmelte ich.
„Scheiß auf die Schminke!", kreischte Marlene. „James wird ihr einen Antrag machen!"
Sie und Dorcas fassten sich an den Händen und hüpften freudig im Kreis herum.
Ich widerstand dem Drang, erneut die Augen zu verdrehen.
„Ja, aber das ist nicht gut! Wir sind doch viel zu jung zum Heiraten. Was, wenn er dann plötzlich feststellt, dass er eigentlich etwas Anderes will?"
Mary schnaubte. „Jetzt mal ehrlich, Lils, ich kenne niemanden, der es so ernst mit einem Mädchen meint wie James es mit dir."

Ich seufzte. „Schon klar, so sind Jungs doch immer am Anfang einer Beziehung. Aber wie sieht das nach zehn Jahren aus? Wir führen unsere erste richtige Beziehung miteinander. Ich hatte absolut keine Erfahrung mit anderen Jungs. Was, wenn es irgendwann langweilig wird?"
„Lils, hast du etwa vor mit James Schluss zu machen, um zu gucken, wie es mit anderen Jungs ist?", fragte Marlene verwirrt.
Ich seufzte tief. „Natürlich nicht. Aber kann ja sein, dass es ihm so geht. Stichwort Testosteron und so."
„Dann führt ihr eben eine offene Ehe." Dorcas kicherte; ich warf ihr einen bösen Blick zu.
„Ganz sicher nicht."

Mary hob energisch meinen Kopf an, um wieder besser an mein Gesicht heranzukommen.
Ich hatte keine andere Wahl, als in ihr konzentriertes Gesicht mit den ernsten blauen Augen zu blicken.
„Lils, es gibt genügend Paare die zusammen sind, seit sie 15 sind. Und solche Beziehungen sind doch die besten, die beiden kennen sich in- und auswendig und sind miteinander durch jegliche Phasen des Lebens gegangen. Ich verstehe echt nicht, wo dein Problem ist. Wenn du James liebst, dann sag verdammt nochmal ja. Und wenn du nein sagst, weil du ihm noch die Möglichkeit für Erfahrungen mit anderen geben willst, bringe ich dich um, das schwöre ich dir", erklärte Mary, zog einen Lidstrich und bewunderte zufrieden ihr Werk.

„Wir sind hier fertig. Marls, du bist dran."
„Jippieee!", machte Marlene, und sprang an meiner Stelle auf den Stuhl vorm Badezimmerspiegel.
Ich ging im Kopf nochmal Marys Worte durch und war mir plötzlich ganz sicher, dass ich James heiraten wollte.
Und das hatte nichts damit zu tun, dass Mary mir mit dem Tod gedroht hatte.

Die Regel - Lily& James Ff ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt