Kapitel 67

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„Warum genau hast du James eine Kanne Saft übergekippt?"
Ich grinste in mich hinein, während Mary über meine Schulter zu den Jungs hinüberspähte.
Wir befanden uns im Klassenzimmer für Verteidigung gegen die dunklen Künste, unsere dritte Stunde für heute, und James war immer noch nicht ganz trocken.
Sirius hatte mit einem Zauberspruch einen Großteil des Saftes entfernt, wobei es ihm vor Lachen geschüttelt hatte (laut Dorcas), aber den Trockenzauber hatte James ihn nicht durchführen lassen wollen („Ich möchte doch nicht in Flammen aufgehen.").
„Da muss mir meine Hand wohl ausgerutscht sein. Ich habe mich schon ausführlich bei ihm entschuldigt."
Das hatte ich tatsächlich, nachdem die kindische Phase der Schadenfreude nachgelassen hatte.
Dennoch genoss ich das Ganze noch ziemlich.
Vor allem, da Holly, die James zufällig im Gang begegnet war, sich gleich mal an seinen Hals geworfen hatte, nur um hinterher festzustellen, dass er („Igitt!") total nass war.
Unnötig zu sagen, dass ich bestens gelaunt an den beiden vorbeispaziert war.
Als ich nun Marys Beispiel folgte und nochmal zu meinem Opfer hinübersah, blickte ich direkt in James' Augen.
Wie immer schlug mein Herz einen kurzen Salto. Wie konnte man so große braune Augen haben? Fast wie die eines Rehs ... oder eben eines Hirschs.
Schnell wandte ich den Blick wieder ab.
Atmen, Lily, atmen.
Unwillkürlich musste ich daran denken, wie ich in seinen Armen eingeschlafen war. Himmel, bekam James auch so ein schönes, warmes Gefühl im Bauch, wenn er daran dachte?
Oder hatte es für ihn nicht so viel bedeutet wie für mich?
Hatte er es eher aus Mitleid getan?
War seine Beziehung zu mir allgemein eher auf Mitleid aufgebaut?
Immerhin hatten wir uns erst bei ihm Zuhause so richtig kennengelernt, und dort war ich gewesen, weil ich einen Streit mit Petunia gehabt hatte.
Ich schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben.
Ich musste wirklich dringend aus diesem Selbstmitleidspool wieder herausklettern. Gut, dann mochte mich James eben nicht auf diese Art.
Vielleicht sah er mich nur als dieses unbedeutende kleine Mädchen, das ihm bei den Hausaufgaben half und somit indirekt auch dabei, andere Mädchen aufzureißen.
Aber nur weil James Potter mich so sah, musste das nicht heißen, dass ich das auch wirklich war.
Okay, sollte er mit blöden Schnepfen wie Holly rummachen.
Das war mir doch sowas von egal.
Okay, nicht egal.
Trotzdem egal.
Entschlossen richtete ich meinen Blick auf die Tafel und verbot es mir, auch nur einmal wieder zu James' hübschen Profil hinüberzulinsen.

„Heut' ist ein schöner Tag zum Sterben", summte ich vor mich hin, als ich am Abend durch die Bibliothek streifte und nach hilfreichen Büchern für meine Hausaufgaben Ausschau hielt.
Auf keinen Fall würde ich nochmal in James' und meiner Wohnung Hausaufgaben machen. Da war mir die Gefahr, James und Holly in eine Knutscherei verwickelt zu begegnen, viel zu hoch.
Und das musste ich meinem armen Herzen nicht auch noch antun.
Am liebsten wollte ich nach Hause.
Wenn ich als kleines Mädchen wegen irgendetwas traurig gewesen war, hatten meine Mutter und ich uns in unser lichtdurchflutetes, kleines Wohnzimmer gesetzt und alte Platten aufgelegt, während wir ins knisternde Kaminfeuer starrten.
Obwohl keiner von uns auch nur ein Wort gesagt hatte, hatte es wahnsinnig geholfen.
Egal, welchen Mist ich verzapft hatte, im Wohnzimmer schien kein Problem so schlimm, wie es eigentlich war.
Und jetzt?
Jetzt hatte James mir die heilige Vorstellung des Wohnzimmers versaut.
Ich schlug mit dem Kopf gegen ein Bücherregal, in der Hoffnung, James Potter damit endlich aus meinen Gedanken zu bekommen.
„Argh!", murmelte ich leise.
Ich hatte es wirklich satt, alles was James tat oder sagte ständig bis ins letzte Detail zu analysieren, ich hatte es satt, ihn immer bis ins letzte Detail zu analysieren.
Ehrlich, so oft wie ich James in letzter Zeit anstarrte, konnte ich bald Phantombilder von ihm zeichnen.
Und zwar ziemlich lebensecht.
Und das nervte mich!
Ich war Lily Evans, ich hatte meinen Stolz, und war definitiv nicht der Typ Mädchen, der den ganzen Tag nur an Jungs dachte (das wäre ja auch pure Zeitverschwendung).
Und erst recht nicht an Potter!
Potter, den Idioten, der meine Augen mit der Farbe von Fröschen und meine Haare mit den Flammen eines missglückten Backversuchs verglich.
Potter, der alles und jeden verhext hatte, nur weil er es eben konnte.
Potter, der in etwa so viele Gehirnzellen wie ich Zehen hatte.
Potter, der blöde Angeber!
Leider war er aber auch James.
James, der mich vor der Welt beschützen konnte, indem er mich einfach nur in den Arm nahm.
James, der sich nicht beschwerte, wenn man ihm vor die Füße kotzte.
James, der mit zur Beerdigung meiner Eltern gegangen war.
James, James, James.
Scheiße.
Grummelnd wankte ich mit einem riesigen Stapel Bücher im Arm zu meinem Platz zurück. Er war nur noch spärlich beleuchtet, dem düsteren Novemberabend sei Dank, und ich sollte mich wohl besser beeilen, wenn ich das letzte bisschen Licht noch ausnutzen wollte.
„Krümel, war ja klar, dass man dich so spät noch in der Bibliothek trifft."
Ich zuckte heftig zusammen, wobei ich mir mein Knie an der Tischplatte anschlug.
Mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht fuhr ich zu dem Übeltäter herum.
„Bei Merlin, Sirius, musst du mich so erschrecken?!" Wütend funkelte ich ihn an.
Er probierte es mit einem charmanten Lächeln und hob entschuldigend die Schultern. „Ähm... sorry?"
Ich schnaubte. „Wieso begegne ich dir in letzter Zeit überhaupt so oft?", murmelte ich, mehr zu mir selbst als zu ihm.
Sirius, der mich dennoch verstanden hatte, ließ es sich nicht nehmen, mir zu antworten.
„Hmm, vielleicht weil du mit meinem besten und überaus nervigen Freund in einer Wohnung wohnst? Oder weil ich dich mittlerweile – auch wenn es schier unmöglich scheint – eigentlich gar nicht mehr so schrecklich finde? Du bist gar nicht so spießig, Evans. Und es war verdammt cool wie du James diesen Saft übergekippt hast. Keine Ahnung, womit er sich das eingehandelt hat, aber dafür verdienst du meinen Respekt." Er zwinkerte mir zu.
Ich schnaubte wieder. „Was für eine Ehre."
Mit den Augen rollend ließ ich mich auf meinen Stuhl plumpsen.
„Nein, ehrlich, Lily. Ich könnte mir vorstellen, mit dir befreundet zu sein."
Mit großen, sturmgrauen Augen blickte er lieb auf mich herunter.
Ich konnte nicht anders, ich musste lachen. „Schon klar, Sirius. Bestimmt bist du nur wegen deines Motorrad- Plans hier und ich soll dir helfen, hab ich recht?"
Zunächst setzte Sirius sich mir mit einer Unschuldsmiene im Gesicht gegenüber.
Als ich ihn mit hochgezogenen Brauen musterte, fiel die Maske und er begann zu strahlen.
„Siehst du, Krümel! Du kennst mich einfach zu gut. Wir werden beste Freunde, ich sag's dir. Und übrigens: Ich habe einen Platz an einer Muggelfahrschule bekommen!"

Die Regel - Lily& James Ff ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt