Kapitel 85

9.3K 548 406
                                    

Am Frühstückstisch traf ich auf meine drei Freundinnen.
Breit grinsend lief ich auf sie zu, stellte mich vor sie, breitete die Arme aus und rief laut: „Ist das Leben nicht schön?!"
Dorcas stöhnte und schlug ihren Kopf auf die Tischplatte, Mary spuckte vor Schreck einen Teil ihres Rühreis wieder aus und Marlene packte mich schnell am Arm und zog mich neben sich auf die Bank.
„Ja Lily, aber das musst du ja nicht gleich der gesamten Großen Halle erzählen", murmelte sie, während sie sich peinlich berührt umsah.
Ich stieß sie freundschaftlich mit dem Ellenbogen an. „Ach komm schon, das ist was, was jeder wissen sollte", sagte ich in normaler Lautstärke.
„Sag mal, hast du schon wieder an einem von diesen Ich-bin-auf-Drogen-Tränken genippt?", hakte Marlene stirnrunzelnd nach.
„Nein, Marls, sie ist verliebt, wie ihr alle hier", zischte Dorcas sichtlich genervt. „Wirklich, Mädels, müsst ihr mich alle im Stich lassen? Ich dachte, wir würden bis an unser Lebensende Single bleiben und eine WG mit tausenden von Katzen gründen. Aber nein, das einzige, was mich nicht im Stich gelassen hat, ist Essen!"
Wie um ihre Aussage zu betonen, stocherte Dorcas so wütend in ihrem Spiegelei herum, dass Eigelb über den Tisch spritzte. 

„Mary ist nicht verliebt", protestierte ich.
Dass ich in James verknallt war, brauchte ich inzwischen wohl nicht mehr zu verleugnen. Wäre auch dumm, jetzt, wo ich ihn geküsst hatte.
Bei der Erinnerung daran beschlich mich sofort wieder ein Lächeln.

Mary dagegen lief rot an und senkte ihren Kopf schnell wieder auf ihr Rührei.
Fassungslos starrte ich sie an.
„Oder etwa doch, Mary?"
Sie schüttelte zwar vehement den Kopf, aber ihr Gesichtsausdruck sprach Bände. Augenblicklich überkam mich ein schlechtes Gewissen, immerhin hatte Mary sofort gemerkt, als ich Gefühle für James entwickelt hatte.
Ich dagegen war so sehr in meinen eigenen Problemen versunken gewesen, dass ich überhaupt nicht mehr auf mein Umfeld geachtet hatte.
„Jaja, schon klar." Dorcas verdrehte die Augen. „Du bist ungefähr genauso heimlich verliebt wie Lily es war. Soll heißen: Jeder kann es sehen!"
Ehe ich mich noch schlechter fühlen konnte, da es anscheinend allen außer mir aufgefallen war, bemerkte ich, was Dorcas da eben noch gesagt hatte.
„Hey! Ich war sehr heimlich in James verliebt. Es wusste ja nicht mal ich!"
„Dann war deine Liebe zu ihm wohl für genau zwei Menschen heimlich: Dich und ihn. Und natürlich hat es erstmal einen Haufen Drama gebraucht bis ihr das gerafft habt. Typisch. Esst doch einfach Schokolade, das spart sowas von Nerven."
Ich konnte das mit der heimlichen Liebe einfach nicht auf mir sitzen lassen und wollte wieder den Mund öffnen, um zu protestieren, doch Dorcas gebot mir mit erhobener Hand Einhalt.

„Lass stecken, Lily, allein dein Gesichtsausdruck als du hereingekommen bist hat quasi geschrien: ‚Ich bin bis über beide Ohren verliebt und habe gestern heiß mit James Potter rumgeknutscht'. Ja, du brauchst gar nicht so ertappt zu gucken. Ich führe vielleicht keine Beziehung, aber ich bin ein absoluter Experte, was das angeht."
Marlene grummelte in ihren nicht vorhandenen Bart: „Du führst doch eine leidenschaftliche Beziehung zu Kuchen."
„Was dagegen?" Mit einem herausfordernden Blick nahm Dorcas sich betont langsam ein Stück Apfelkuchen und biss herzhaft hinein.
Marlene verzog leicht das Gesicht, als Dorcas übertrieben schmatzte.
„Ähm ... Nein." Sie drehte den Kopf nun zu mir und ich ahnte bereits Schlimmes. Schnell warf ich einen hilfesuchenden Blick zu Mary, aber die schien mit den Gedanken ganz woanders zu sein.
Vermutlich bei ihrem heimlichen Liebsten.
Wie hatte ich das übersehen können?!

„Aber habe ich richtig gehört, Lilylein? Du hast James Potter geküsst, den zweitbeliebtesten Jungen der Schule, der ungefähr seit Anbeginn der Zeit versucht, dich zu einem Date zu kriegen?"
Zögernd nickte ich.
Marlene machte einen Luftsprung, der mich vor Schreck zusammenzucken ließ.
Außerdem haute sie sich dabei ordentlich das Knie an der Tischplatte an, was nicht nur sehr schmerzhaft aussah, sondern auch unser Geschirr ordentlichen zum Erzittern brachte.
„Hey!", beschwerte Dorcas sich mit vollem Mund, als Kürbissaft über die Reste ihres Apfelkuchens lief.
Doch Marlene beachtete das alles gar nicht. Stattdessen packte sie mich an den Schultern und schüttelte mich mit der Kraft eines Tsunamis durch.
„Oh bei Merlins Unterhose! Und, wie war's?", schrie sie in mein Ohr.
Unsere Sitznachbarn warfen uns pikierte Blicke zu.
Heute waren wir wohl besonders nervig.
„Ähm – gut?", antwortete ich ausweichend.
Marlene sackte fassungslos in sich zusammen. „Gut? Gut?! Das ist alles, was du dazu zu sagen hast?"
Endlich schaltete sich Mary ein. „Marls, nicht jeder erzählt so ausufernd über sein Liebesleben wie du. Ich für meinen Teil kann ganz gerne auf die Details verzichten."
Ich lächelte sie dankbar an, und sie zwinkerte mir zu, bevor sie sich wieder ihrem Frühstück widmete.
Ich war erleichtert. Offensichtlich nahm sie es mir nicht böse, dass ich in letzter Zeit ganz schön hinter dem Mond gelebt hatte.
„Okay, alles will ich ja gar nicht hören", räumte Marlene ein. „Aber wenigstens wie es sich angefühlt hat, immerhin war das Lilys erster richtiger Kuss!"
Alle drei drehten ihre Köpfe neugierig zu mir.
Ich lief knallrot an.
„Also, ähm ... ein bisschen seltsam ist es schon ... aber auf eine gute Art. Es fühlt sich schön an." Ich zuckte hilflos mit den Schultern. „Und macht irgendwie... süchtig."

„Was macht süchtig?"
„Remus!", riefen wir im Chor, und äußerst genervt.
Als hätten wir das perfekt einstudiert, fuhren wir alle gleichzeitig zu dem eingeschüchterten Rumtreiber herum.
„Hab ich was falsch gemacht?", fragte er verwirrt. Wie selbstverständlich ließ er sich neben Mary auf die Bank fallen.
„Nein, du unterbrichst uns nur immer, wenn wir gerade Mädchengespräche führen wollen!", klärte Marlene ihn mit vor der Brust verschränkten Armen auf.
Remus runzelte die Stirn. „Um wen geht's denn?"
„Um James, was sonst?"
Das brachte Marlene einen kräftigen Tritt gegens Schienbein von mir ein.
Remus war immerhin einer von James' besten Freunden.
Und auch wenn ich James sehr gern hatte, sein Ego sollte wirklich nicht noch mehr wachsen.
Doch Remus schien dieser Fakt gar nicht so sehr zu interessieren.
„Ah ja. Okay. Aber eine Frage hätte ich da", fing er an, und schaute kurz auf, während er sich reichlich Rührei auftat, „wenn es jetzt um James geht, wer von euch stand dann auf diesen geheimnisvollen Bernd?"

Oh, Merlin.
Ich wollte im Boden versinken.
Marlene runzelte die Stirn. „Bernd? Du meinst Lilys Pi..."
Ich unterbrach sie hastig. „... pingeligen Cousin? Oh, niemand. Wir hatten darüber nachgedacht, ihn mit Dorcas zu verkuppeln, aber dann ist er Veganer geworden und das passt nun wirklich nicht zu Dorcas' Essgewohnheiten."
Das war knapp gewesen.
Dorcas schaute zwar etwas beleidigt zu mir herüber – kein Wunder, wer wollte schon mit einem Pickel verkuppelt werden -, doch das war es mir wert.
„Oh." Remus begann völlig normal sein Rührei zu essen, nichtahnend, dass Marlene und Mary gerade vor unterdrücktem Lachen fast von der Bank fielen. „Na dann verkuppelt sie doch besser mit Sirius, der liebt Essen schließlich ebenso."
Jetzt galt Dorcas' beleidigter Blick ihm. „Sirius? Nein, danke."
„Warum denn nicht? Eure verfressenen Auren passen perfekt zusammen!" Remus schien tatsächlich begeistert von seiner Idee, Dorcas eher weniger.

Wortlos stand sie auf und ging – jedoch nicht, ohne sich noch ein Stück Apfelkuchen mitzunehmen.
Irritiert schaute Remus ihr nach, bevor er sich wieder uns zuwandte.
„Habe ich etwas falsch gemacht?", fragte er wieder. "Steht sie vielleicht doch auf Bernd?"
In diesem Moment konnte Marlene, die knallrot angelaufen war, ihr Lachen nicht mehr zurückhalten.
Sie prustete los, mit der Lautstärke eines Nebelhorns.
Auch Mary stimmte nun mit ein, und bald liefen beiden die Lachtränen übers Gesicht.
Remus saß ein bisschen bedröppelt dazwischen.
Als sein hilfloser Blick zu mir lief, zuckte ich nur mit den Schultern.
Es waren eben nicht nur die Rumtreiber, die seltsame Insider besaßen.

Die Regel - Lily& James Ff ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt