Erst am Abend verließ ich den Turm der Gryffindors, mit beachtlich guter Laune.
Ich war zu dem Schluss gekommen, dass nicht nur Umarmungen, sondern auch gemütliche Nachmittage unter Freunden Heilkräfte besaßen.
Es hatte so gutgetan, Zeit mit meinen besten Freunden zu verbringen, auch wenn Marlene nicht länger als ein paar Minuten ihre Klappe hatte halten können. Der arme Remus war vermutlich immer noch traumatisiert.
Oder er hatte mittlerweile einen Hörschaden.
Jedenfalls hatte ich meinen Wissensstand nach diesem Nachmittag auf den aktuellen Stand gebracht und alle Hausaufgaben erledigt.
Was für ein angenehmes Gefühl.
Sobald ich in der Schulsprecherwohnung ankommen würde, könnte ich mir eine heiße Schokolade machen und in Ruhe nachdenken...
Meine Gedanken über den Plan für den restlichen Abend wurden von Stimmen unterbrochen. Ich sah auf.
Mittlerweile war ich im Treppenbereich angekommen, und ich war nicht länger allein. Einige Slytherins unternahmen ebenfalls einen Abendspaziergang.
Ich musste schlucken, als ich Snape entdeckte, natürlich in Begleitung seiner kleinen Todesserfreunde: Mulciber und Avery, und noch ein paar andere, deren Namen ich nicht auf Anhieb wusste.
Verdammt. Hastig suchte ich nach einer Möglichkeit, die Flucht zu ergreifen, um unbemerkt an der kleinen Gruppe vorbeizukommen, doch es war zu spät: Die Treppe, auf der ich stand, hatte sich in Bewegung gesetzt und steuerte direkt auf die Menschentraube weiter unten zu.
Ich schloss die Augen und zählte in Gedanken bis drei, um mich zu beruhigen.
Meine Finger krampften sich um die Bücher und die Pergamentrollen. Leicht panisch fragte ich mich, wo zur Hölle ich meinen Zauberstab hingetan hatte.
Als ich die Augen wieder öffnete, hatten sie mich bereits entdeckt.
Mulciber grinste, wobei er einen Haufen schlechter Zähne entblößte. „Na sieh mal einer an, die kleine Evans", höhnte er. „Wie bist du denn angezogen?"
„Hast'es etwa nicht mitbekommen?", antwortete Avery an meiner Stelle. „Die hat doch die ganze letzte Woche im Unterricht gefehlt. In diesen Zeiten ermordet man nichtswürdige Familien wie ihre ganz gerne."
Ich reckte mein Kinn in die Höhe. „Meine Familie wurde nicht ermordet."
Meine Stimme klang ruhig und beherrscht, aber meine Hände zitterten. Ich schloss sie noch fester um meine Bücher.
„Nicht? Na, dann ist dein Pack wohl so armselig, dass es niemanden interessiert, Schlammblut."
Ich ignorierte ihn. Mir war aufgefallen, dass Snape mich durch seine schwarzen Augen anstarrte. Ich starrte kalt zurück. Von dem kleinen Jungen aus dem Spinners End, den ich aus meiner Kindheit kannte, war nicht viel übriggeblieben.
Ich fragte mich, ob er etwas vom Tod meiner Eltern mitbekommen hatte. Immerhin hatten wir im selben Ort gewohnt.
„Fragt doch ihn, ob meine Familie armselig ist", sagte ich und schaute Snape dabei direkt in die Augen. „Er kennt sie immerhin."
Etwas aus dem Konzept gebracht wandte Avery den Kopf zu Snape. „Was soll das heißen?", schnaubte er.
„Ach." Ich tat überrascht. „Hast du deinen kleinen Freunden hier gar nicht erzählt, dass dein Vater ein ebenso nichtswürdiger, armseliger Muggel wie meiner ist?"
Snape biss die Zähne zusammen. „Das interessiert keinen, Schlammblut. Ich habe mich von meiner Familie gelöst, genauso wie von allen anderen, die unwürdig sind."
Dass er damit mich meinte, war klar.
„So." Meine Stimme war genauso eisig wie seine. „Das klang aber ganz anders, als du mich angebettelt hast, deine Freundschaft wieder zurückzunehmen."
Angst huschte über Snapes blasses Gesicht, doch er verbarg sie schnell wieder hinter einer ausdruckslosen Maske. Seine sogenannten Freunde hatten ihre Aufmerksamkeit nun vollends ihm zugewandt.
Snapes Kiefermuskeln spannten sich an.
„Stimmt das, Severus?", fragte Mulciber. Der drohende Unterton in seiner Stimme war unüberhörbar.
Sie sahen ihn erwartungsvoll an. Snapes schwarze Augen huschten von mir zu ihnen, ihre Blicke legten ihm die Worte schon in den Mund: „Ich war niemals mit dir befreundet, Muggel."
Es hätte nicht wehtun dürfen, aber das tat es. Ich suchte in seinen Augen, in seinem Gesicht nach Reue, nach einer Entschuldigung, doch natürlich fand ich nichts.
Was war aus meinem besten Freund geworden?
Ich erkannte ihn nicht wieder.
„Du widerst mich an", flüsterte ich.
Für einen Moment starrten wir uns nur ausdruckslos an.
„Du bist so ein verlogener, abartiger Mistkerl. Du widerst mich an", sagte ich wieder, diesmal mit gefestigter Stimme. Vielleicht war ich verletzt, aber das war ich schon seit der fünften Klasse, seit er dieses verdammte Wort ausgesprochen hatte.
Schlammblut.
Mittlerweile hatte ich gelernt, dass es besser so war. Snape hatte seine Seite gewählt, und nun standen wir uns gegenüber. Als Feinde.
Das sahen seine Begleiter offenbar genauso.
Als hätte er nur auf diese Chance gewartet, zog Mulciber seinen Zauberstab.
Ich schluckte und wich zurück, ein paar Stufen empor, sodass er wenigstens nicht mehr auf mich herabschauen konnte.
Alles in mir schrie danach, wegzulaufen, aber die Blöße wollte ich mir nicht geben. Außerdem war es dafür nun sowieso zu spät. Wenn ich ihm jetzt den Rücken zukehrte, dessen war ich mir sicher, würde mich ein Fluch treffen, direkt zwischen die Schulterblätter.
Wegrennen war zwecklos. Stattdessen fand ich im Bund meiner Jeans den Zauberstab. Ich schloss die Finger der einen Hand darum, mit der anderen hielt ich weiterhin die Bücher fest.
„Beleidige nicht jemanden, der dir höhergestellt ist, Schlammblut", knurrte Mulciber und kam langsam näher.
„Beleidige du nicht die Schulsprecherin", erwiderte ich, und setzte mutiger als ich mich fühlte hinzu: „20 Punkte Abzug für Slytherin."
Mulcibers Augen verengten sich zu Schlitzen.
„Stupor!"
„Protego!"
Augenblicklich hielt ich meinen Zauberstab in der Hand.
Mein Herz klopfte wie wild in meiner Brust und jagte das Blut schnell durch meine Adern. Mein ganzer Körper spannte sich an, als ich mich bereit machte, gegen sie alle anzutreten.
Doch das musste ich gar nicht. Denn genau im richtigen Moment erklangen Stimmen.
Die Stimmen von Professor Dumbledore und Professor McGonagall.
„Verdammt", entfuhr es Mulciber. Ich sah, dass es ihn in den Fingern juckte, noch einen Fluch auf mich abzufeuern, aber so dumm war er wohl doch nicht.
„Das war nicht das letzte Mal, Evans, verlass dich drauf", zischte Avery mir zu, der Mulciber am Arm packte und wegzog.
Nacheinander machten sie sich aus dem Staub, während die Schritte der Professoren immer näherkamen.
Als letztes ging Snape. Er drehte sich noch einmal um, wobei seine schwarzen Augen sich in meine grünen bohrten. Für einen kurzen Moment sah es so aus, als wolle er etwas sagen.
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Snape schüttelte den Kopf, wandte sich ohne ein weiteres Wort um und eilte davon, sein wehender Umhang gab ihm dabei ein bisschen das Aussehen einer zu groß geratenen Fledermaus.
„... erscheint mir einfach zu gefährlich!", ereiferte sich McGonagall, als sie und Dumbledore um die Ecke ins Treppenhaus bogen.
Bei meinem Anblick legte Professor Dumbledore beschwichtigend eine Hand auf ihren Arm. „Ich stimme Ihnen vollkommen zu, Professor, aber lassen sie uns kurz Miss Evans begrüßen."
Die blauen Augen hinter der Halbmondbrille funkelten mich freundlich an.
„Guten Abend, Miss Evans, darf ich fragen, was Sie zu so später Stunde noch hier machen?", fragte er in höflichem Ton an mich gewandt.
„R- Rundgang", murmelte ich.
„Wie bitte?"
„Ich bin auf einem Rundgang, Sir."
„Ach so. Wie schön, dass wir eine solch verantwortungsvolle Schulsprecherin haben, nicht wahr, Minerva?" Er zwinkerte mir zu. „Nun, dann aber bald zurück auf ihr Zimmer, Miss Evans, soweit ich weiß, haben sie noch einigen Unterrichtsstoff nachzuholen."
Ich starrte ihn an und fragte mich, ob Dumbledore über den Grund für mein Fehlen Bescheid wusste.
„Ja, Sir. Gute Nacht."
„Gute Nacht, Miss Evans", erwiderten beide.
Ich glaubte ihre Blicke in meinem Rücken zu spüren, als ich langsam die Treppe hinabstieg und mich auf den Weg zur Schulsprecherwohnung machte.Dieses Kapitel widme ich meiner wundervollen besten Freundin bandwur ❤️❤️
Seid nicht zu hart mit ihr, sie war zu dumm Bandwurm zu schreiben und heißt deswegen bandwur. (Nur Spaß. Alles gut, kleiner Bandwurm. Sie hat das "m" mit Absicht weggelassen, weil es Bandwurm schon gab.)
Und mal wieder ein großes Dankeschön an euch! Für die tollen Kommentare und mittlerweile über 40K Reads! Unglaublich!!!❤️
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Die Regel - Lily& James Ff ✔️
FanfictionABGESCHLOSSEN Seit Jahren besteht diese eine Regel: Evans hasst Potter, Potter mag Evans. Wenn es nach Lily Evans, Einserschülerin und absoluter Lehrerliebling, geht, wird diese Regel auch niemals gebrochen werden. Doch da hat sie ihre Rechnung ohne...