Kapitel 35

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„James", murmelte ich. Endlich gelang es mir, meine Hand von der Mauer zu lösen und ein paar wackelige Schritte in den Raum zu setzen.
Solange ich nur in seine großen Augen sah, konnte ich es aushalten, ich konnte gerade laufen, ohne dass sich mir der Magen umdrehte.
Wenn ich den Blick auf seinen Bauch senkte, sah das ganz anders aus.
Prongs knurrte. Er knurrte wirklich. Ich hatte nicht mal gewusst, dass Hirsche das konnten, aber er tat es, und es klang wütend und vorwurfsvoll.
„Pssst", machte ich. „Du kannst mich später anschreien. Jetzt müssen wir dir erstmal... helfen."
Ich fühlte mich ein wenig dumm, weil ich mit einem Hirsch redete, aber ich schob diesen Gedanken beiseite und nahm all meinen Mut zusammen, bevor ich mich vor James kniete und einen kurzen Blick auf die Wunde warf.
„Ugh", machte ich und verzog das Gesicht. „Ich werde definitiv keine Heilerin."
Prongs stupste mich auffordernd mit der Schnauze an und bewegte dann so schnell wie seine schwindenden Kräfte es noch zuließen den Kopf in Richtung Ausgang.
„Vergiss es, ich gehe nicht weg."
Mit dem Gesicht zur Decke gewandt atmete ich ein paar Mal tief durch.
Dann schaute ich wieder auf die blutigen Fetzen, die Prongs' Bauch darstellten.
Himmel, das war furchtbar.
„James, ich kann dir so nicht helfen", flüsterte ich mit gequälter Stimme. „Du musst dich zurückverwandeln, dann kann ich dich ins Schloss bringen und Miss Pomfrey holen."
Von Prongs kam nur ein müdes Keuchen. Ich schaute in das hübsche Gesicht des Tieres und sah, dass er seine Augen schon wieder geschlossen hatte.
Auf den Knien rutschte ich näher und bettete vorsichtig seinen Kopf auf meinen Schoß. Dabei fuhr ich mit den Fingern sanft und beruhigend über das weiche Fell, über seine Schnauze und die Stirn.
„James, hörst du mich? Verwandle dich zurück, bitte, sofort. Solange du noch Kraft hast", bat ich ihn leise, mit den Lippen direkt an einem der plüschigen Ohren.
„James, sieh mich an."
Erschöpft öffnete er ein Auge. Es glänzte fiebrig.
„Verwandle dich zurück", wiederholte ich mich, diesmal eindringlicher.
Er presste die Augen fest zusammen. Zuerst dachte ich, es sei wegen der Schmerzen oder er wollte wieder einschlafen. Ich wollte schon erneut zu meinen Worten ansetzen, als ein Schauder durch seinen Körper ging.
Das Fell zog sich zurück, die Körperhaltung veränderte sich, Gliedmaßen zogen sich zusammen. Staunend beobachtete ich die Verwandlung eines Animagus.
Ein schmerzerfülltes Keuchen kam von James, sobald er wieder seine Menschengestalt angenommen hatte, und seine Hand schnellte automatisch zu seinem Bauch.
Er krümmte sich leicht zusammen und stöhnte.
Für einen Moment sah es so aus, als müsste er sich übergeben, doch dann holte er nur tief Luft und drehte langsam den Kopf, bis er zu mir hochsehen konnte.
Er schaute mich an und ich erwiderte den Blick in seinen fiebrigen Augen.
Wir zuckten beide zusammen, als ein Wassertropfen auf seine Wange fiel; mir war gar nicht aufgefallen, dass ich weinte.
„Nicht ... weinen", murmelte James. Er keuchte. „Lily..."
Seine Stimme war so voller Schmerz, dass mein Herz aus Mitgefühl explodieren wollte.
„James es tut mir leid", sagte ich leise und meinte es auch so, „aber du musst aufstehen. Wir müssen hoch zum Schloss."
„Ich ... kann nicht", brachte er hervor und stöhnte wieder auf.
Allein bei diesen zwei Worten brach ihm der Schweiß aus.
Ich strich besorgt durch sein schwarzes Haar und legte meine kalten Hände auf seine erhitzten Wangen.
„Du musst. Diese Wunde muss behandelt werden."
„Aber... Remus..." Er brach ab und starrte mich aus glasigen Augen an.
„Wir werden ihr nicht erzählen, dass ihr hier draußen wart. Ich lasse mir eine Geschichte für sie einfallen, keine Sorge", beruhigte ich ihn flüsternd.
Er nickte schwach. „Okay", hauchte er.
„Hilf ... mir", bat er dann, so leise, dass ich es fast nicht gehört hätte.
„Hilf mir hoch", murmelte er, ein wenig lauter.
„Warte", befahl ich. Behutsam legte ich seinen Kopf wieder auf dem Boden ab, dann ging ich vorsichtig um ihn herum und kniete mich wieder vor der Wunde hin.
Ich zog meine Jacke aus und riss ruckartig an dem Stoff. Es gab ein hässliches Geräusch, aber mehr auch nicht. Erst nach einigen Versuchen teilte sich der Stoff und ich konnte James ganz umsichtig und mit langsamen Bewegungen einen Verband anlegen. Meine medizinischen Kenntnisse waren sehr begrenzt, aber Mum hatte Pentunia und mich in den Sommerferien vor der fünften Klasse mal zu einem Erste- Hilfe- Kurs geschickt. Es war einer ihrer unzähligen vergeblichen Versuche gewesen, uns zurück in die Zeiten schwesterlicher Liebe zu bringen.
Das hatte nicht geklappt, aber wenigstens hatte ich einige Grundkenntnisse erworben.
„Okay", murmelte ich, als ich fertig war. Mit einem ängstlichen Blick auf den schweratmenden James stand ich wieder auf.
„James, komm. Du musst aufstehen, es tut mir leid."
„Ja", murmelte er. „Ist ja gut. Nur Lily... hör auf zu weinen."
Ich hatte ihn noch nie so leise und kraftlos sprechen hören, nicht einmal, nachdem er mein Tagebuch gelesen hatte.

Ich wusste nicht genau, wie wir es zum Schloss schafften.
Mein kompletter Körper hatte unter dem Einfluss von Adrenalin gestanden, gleichzeitig war ich vollends erschöpft gewesen. Der fehlende Schlaf hatte sich bemerkbar gemacht, als ich James half, sich durch den Gang an der Weide vorbei über das Gelände zum Schloss zu schleppen.
Ich wusste nur noch, dass es schrecklich gewesen war. Es war schrecklich gewesen, seinen schweren Arm um meine Schulter zu spüren, die gebrochene Stimme zu hören, ganz zu schweigen von den schmerzerfüllten Lauten.
Aber irgendwie brachten wir es fertig, in den Krankenflügel zu gelangen, beide einer Ohnmacht nahe, James wegen der furchtbaren Verletzung und ich wegen der völligen Erschöpfung.
Zu viele überraschende Erlebnisse an einem Tag.
Oder wohl eher in einer Nacht.
Ich warf Miss Pomfrey irgendeine Erklärung hin, in der Besen und Niffler eine Rolle spielten. Ich wusste, dass sie mir das nicht abkaufte, doch sie nickte nur und begann, sich um James zu kümmern.
In Anbetracht dieser Wunde schien ihr die Hintergrundgeschichte ziemlich egal zu sein. Oder sie konnte es sich einfach schon denken.
Ich blieb während der Behandlung im Saal, doch schaute nicht hin. Meine Augen waren geschlossen, der Mund geöffnet, weil ich das Gefühl hatte, sonst keine Luft zu bekommen. Miss Pomfrey hatte mich auf den nächstbesten Stuhl verfrachtet, und ich stand erst wieder auf, als sie fertig war und die Wunde geschlossen, verborgen unter einem weißen Nachthemd und der Decke des Krankenbetts.
„Dankeschön", nuschelte ich. Sie nickte nur.
„Geh jetzt ins Bett, Kind", befahl sie mir, woraufhin ich nur müde nickte und langsam aus dem Krankenflügel schlich.
Seltsam, dachte ich. Jetzt habe ich schon wieder meinen Erzfeind gerettet.

Omg Leute ihr seid die Besten ❤️
Danke, danke, danke für 10K Reads 😱😱😍
Ich komme da gerade gar nicht drauf klar ...☺️
*quietscht und springt seltsam rum
Ich glaub das war's schon ich bin gerade zu unfähig irgendwelche Wörter rauszubringen... Aber einfach Danke ❤️
Und danke an moreThanANormalGirl für das schöne Cover😍😍

Die Regel - Lily& James Ff ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt