Kapitel 48

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„Oh Lily", glaubte ich James flüstern zu hören, bevor ich warme Hände auf meinen Schultern fühlte.
Er zog mich vorsichtig hoch, und brachte mich in eine sitzende Position.
Sofort schlang ich die Arme um meine angewinkelten Knie und vergrub mein verheultes Gesicht darin.
James hatte mich oft genug weinen gesehen. Ich hasste es, dass er mich so schwach sah.
„Krümel, du brauchst dich doch nicht zu schämen", murmelte er sanft.
Seine Finger zogen beruhigende Kreise auf meinem Rücken, während er ein bisschen näher rückte, sodass sein Knie meinen Oberschenkel berührte.
„Hey, lass dir Zeit."
Ich war ihm unendlich dankbar, dass er mich nicht zwang, ihn anzusehen, dass er mich einfach weinen ließ, ohne etwas zu erwarten.
Er saß einfach da und massierte ganz leicht meinen Rücken, meine Schultern.
„Es... es tut mir so leid."
Irgendwie war das aus mir herausgebrochen. Ich weinte immer noch, und die Worte klangen, als wäre jede Menge Rotze dahinter, aber James schien sie verstanden zu haben.
„Was denn?", fragte er sanft, während er seine Hand über meinen Rücken gleiten ließ, bis sein Arm um meine Schulter lag. Dort ließ er ihn liegen.
„Du ... du musst ja denken ich komme immer nur zum Heulen zu dir. Dass ich die reinste Heulsuse bin. Gott, ich schäme mich so."
James sagte gar nichts.
Nach einer Weile wurde das Schweigen so unerträglich, dass ich den Kopf hob. Ich blinzelte ein paar Tränen weg und sah James zum ersten Mal seit er aufgewacht war direkt an.
Durch die Dunkelheit konnte ich seinen Gesichtsausdruck nicht direkt deuten.
War das... Wut?
Das versetzte mir einen Stich.
„Es ... es tut mir wirklich leid", stammelte ich. „Ich ... ich sollte wohl gehen. Ich wollte dir nicht das Gefühl geben ..."
Mein Satz endete in einem überraschten Laut. James hatte mich fast so ruckartig wie vorhin im Schlaf wieder in seine Arme gezogen.
Diesmal lehnte ich seitlich an seiner Brust, mein Kopf verschwand irgendwo in seiner Halsbeuge. Seine große Hand legte sich um meinen Hinterkopf und drückte mein Gesicht noch ein bisschen fester an ihn.
„James?", murmelte ich schüchtern.
„Sag sowas nie wieder, okay?
Du bist keine Heulsuse, du bist nicht schwach. Wie kommst du nur darauf?
Du bist so ziemlich die stärkste, mutigste, beste Person, die ich kenne.
Natürlich bricht der Schmerz dir das Rückgrat.
Das ist normal. Jedem von uns würde es so gehen. Zum Glück. Geliebte Menschen haben ein Recht darauf, so betrauert zu werden.
Ich kann nicht annähernd nachempfinden, wie furchtbar das alles für dich sein muss, ich kann es nicht verstehen, weil ich so etwas noch nicht fühlen musste.
Aber ich sehe dir an, dass es schrecklich ist.
Du hast ein absolutes Recht darauf, diesen Schmerz irgendwie rauszulassen, und glaub mir, ich bin froh, dass du es bei mir tust. Ich möchte dir helfen, Lily."
Den letzten Satz flüsterte er nur noch in mein Haar.
Seine Worte hatten mich noch mehr zum Weinen gebracht. Wie hatte ich ihn nur jemals ein Arschloch nennen können?
„Kommst du ... kommst du mit zu der Beerdigung?", brachte ich mühsam hervor.
James Daumen strich über meine Wange und wischte ein paar Tränen weg.
„Natürlich. Wann?"
„M-morgen."
Sein Daumen stoppte kurz. Er hielt mich mit beiden Händen an der Schulter fest und schob mich ein Stückchen weg, damit er mich ansehen konnte. Ich hob den Kopf, und erwiderte seinen Blick.
„Bist du deswegen hierhergekommen? Konntest du nicht schlafen?"
Ich nickte stumm. James seufzte.
„Tut mir-", setzte ich an, aber James schüttelte vehement den Kopf.
„Tu mir einen Gefallen", flüsterte er, „und hör endlich auf das zu sagen. Dir muss nichts leidtun. Danke, dass du hergekommen bist, Lily."
„Wieso danke?", flüsterte ich verwirrt zurück.
Er zuckte mit den Schultern. „Irgendwie zeigt es mir, dass du mir vertraust. Möchtest du lieber hier schlafen?"
„Hm." Ich starrte unschlüssig auf seinen freien Oberkörper.
Solange er kein Oberteil anhatte, würde ich nicht hier schlafen, soviel stand fest.
Nicht, dass ich etwas gegen den Anblick gehabt hätte.
Aber das war dann doch etwas zu ... seltsam.
Hör endlich auf ihn anzustarren.
Ich wurde rot und sah schnell weg. Okay, ich war wirklich prüde.
„Kannst du dir dann was anziehen? Bitte?", murmelte ich. Scheiße, bestimmt war ich knallrot. Peinlich berührt starrte ich nach unten auf die Bettdecke.
„Ähm – ja. Klar."
James klang ein bisschen belustigt. Nicht nur ein bisschen- er klang sehr, sehr belustigt.
Früher hätte ich mich jetzt aufgeregt und ihm einen wütenden Vortrag gehalten, jetzt nickte ich einfach nur beschämt und wartete mit niedergeschlagenen Augen, während er vom Bett kletterte und sich an seinem Kleiderschrank zu schaffen machte.
Wenig später senkte sich die Matratze, und James kam zurück.
„Besser? Oder soll ich lieber auf dem Fußboden schlafen?"
Er machte sich über mich lustig. Verdammt.
„Ähm- nein. Ich kann dich ja schlecht aus deinem eigenen Bett schmeißen", grummelte ich, ohne ihn anzusehen.
James lachte leise. „Dir traue ich das glatt zu, Lily Evans."
Ich grinste schwach. „Sorry."
„Wie war das mit den Entschuldigungen?"
„Ach ja. Tut mir leid."
„Evans!"
Jetzt lächelte ich wirklich. Es tat gut, mich mit ihm zu kabbeln. Es hatte fast den Anschein von Normalität. Fast.
Ich hob den Kopf und schaute ihn direkt an. „Ja, Potter?", grinste ich.
„Kleine Giftschlange", grummelte er. Dann warf er sich rückwärts auf die Matratze und kuschelte sich in die Bettdecke.
„Komm her." Er streckte einen Arm aus, die Augen schon geschlossen.
Das Lächeln verging mir augenblicklich. Oh Gott. Sollte ich wirklich ...?
Das wäre verdammt seltsam. Wenn irgendwer von den anderen das herausfinden würde... Lily Evans bei James Potter im Bett.
Na toll, das klang ja noch falscher als es war.
Wir wären sofort DAS Gesprächsthema der Schule.
Andererseits wusste ich, sobald ich drüben wieder allein in meinem eigenen kalten Bett liegen würde, könnte ich nicht einschlafen.
Eins musste man James Potter lassen: Er war ein wahnsinnig guter Tröster.
Und eine wahnsinnig gute Ablenkung.
„Evans, mein Arm schläft gleich ein. Und der Rest meines Körpers auch."
„Okay", flüsterte ich. „Okay."
Vorsichtig krabbelte ich über das Bett zu ihm rüber.
Für einen kurzen Moment zögerte ich noch und starrte auf James hinunter. Er hatte die Augen schon wieder geschlossen.
Ach, was solls.
Ich hatte ja nicht vor, ihn in irgendeiner Weise anzumachen.
Ich wollte einfach nur schlafen.
Also kuschelte ich mich in seinen Arm und schloss die Augen.
James legte fürsorglich die Decke über mich, und ich wurde schon wieder rot, als seine Finger dabei kurz über meine bloßen Arme strichen.
„Dein Gesicht leuchtet quasi in der Dunkelheit."
Mein Kopf fuhr hoch; James blinzelte zu mir herunter.
Ohne darüber nachzudenken was ich eigentlich tat, vergrub ich mein Gesicht an seiner Seite.
Okay, wenigstens sah er mich hier nicht mehr.
„Gute Nacht", knurrte ich.
James lachte wieder leise. „Gute Nacht, Krümel."

Für PauliLena ❤️

Die Regel - Lily& James Ff ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt