Kapitel 107

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Trotz des leise rieselnden Schnees und der beträchtlichen Minusgrade, die unseren Atem zu Dampfwolken werden ließen, fror ich kein bisschen inmitten der Schülermasse oben auf dem Ostturm.
Die letzten Stunden waren voller hektischer Planung und einigen Nervenzusammenbrüchen gewesen, doch es hatte sich definitiv gelohnt: Wir hatten alle Siebt- und Sechstklässler zusammengetrommelt, die wir hatten finden können, was überraschenderweise gar nicht so wenige waren.
Zumindest reichte es, um die Plattform des Turms zu füllen und jegliches angeschaffte Essen binnen Sekunden verputzt zu sehen.

Die Hauselfen waren ebenso in unseren Plan eingeweiht worden, und da es ihrem liebenswerten Wesen einfach nicht möglich war, jemandem etwas abzuschlagen, tauchte ab und zu ein kleiner Elf auf, der unauffällig unsere Essensvorräte auffüllte und dann genauso still und leise wieder verschwand.
Mithilfe einiger Zaubersprüche war auch die Aussichtsplattform hübsch dekoriert worden, und Remus hatte irgendwo eine stattliche Musikanlage hergezaubert, sodass sich nun ein Großteil der Partygäste im Takt der Musik unter in der Luft schwebenden Lampions herumwirbelten und ausgelassen lachten.

Einige standen auch am Rand und unterhielten sich (wobei sie beinahe brüllen mussten, um die Musik zu übertönen) oder genossen die Aussicht auf den klaren Sternenhimmel, andere hielten sich größtenteils beim Buffet auf (Dorcas) und wieder andere hingen kotzend über dem Geländer (Sirius hatte seinen gesamten Feuerwhiskey-Vorrat zur Verfügung gestellt).

Inzwischen war es nur noch etwa eine halbe Stunde bis Mitternacht, und langsam begann die Tanzfläche, sich zu leeren und immer mehr unserer Klassenkameraden versammelten sich am Geländer, wobei sie einen gewissen Sicherheitsabstand zu den Saufnasen ließen.
Ich stand glücklich grinsend an James gelehnt in einer etwas ruhigeren Ecke und schaute in den tiefschwarzen Himmel.
Ich trug lediglich ein dunkles T-Shirt, doch James hatte von hinten die Arme um mich geschlungen und drückte mich fest an seine warme Brust, sodass ich die Kälte nur spürte, wenn Wind aufkam.

Die Musik drang nur gedämpft in unsere Ecke, Gesellschaft hatten wir auch keine, und so konnte ich einfach diesen Moment der Zweisamkeit mit James genießen.
Ich kuschelte mich noch enger an ihn und drehte den Kopf ein wenig, um meine Nase an seinem Hals vergraben zu können.
Zufrieden atmete ich seinen Geruch ein.
„Ich bin so froh, dass Sirius nicht hier ist", murmelte ich und konnte einen kleinen Seufzer nicht unterdrücken.
James schmunzelte. „Ich weiß nicht, was du meinst."
Ich rollte mit den Augen. „Komm schon. In letzter Zeit führen wir eine Dreiecksbeziehung!"
„Sirius war zuerst da."
Ich schnaubte empört und versuchte, mich aus James' Umarmung zu winden, doch er drückte mich nur noch fester an sich.
„Schsch, bleib hier. Das war doch nur Spaß", lachte er leise an meinem Ohr.
Schmollend verschränkte ich die Arme vor der Brust.
„Komm schon, Lily." Ich wusste, dass James lächelte, auch wenn ich sein Gesicht nicht sehen konnte. Sein warmer Atem kitzelte die nackte Haut an meinem Hals.
„Du weißt, dass mein Herz nur dir gehört." Er drückte mir einen kleinen Kuss auf den Nacken. Es kitzelte und ich musste lachen, während sich gleichzeitig eine Gänsehaut auf meinen Armen ausbreitete.
Was allerdings nichts mit der Kälte zu tun hatte.

„Ich sag dir, irgendwann zieht er bei uns ein", knurrte ich dennoch.
Zumindest versuchte ich, zu knurren. Vermutlich war es eher ein Schnurren.
James lachte wieder leise. Ich spürte die Vibration seiner Brust an meinem Rücken und musste automatisch auch grinsen.
„Ich habe ja immer noch die Hoffnung, dass er wieder mit Marlene zusammenkommt", murmelte James, wobei er anfing, eine Spur an meinem Hals entlang zu küssen.
Mir fiel es ein wenig schwer, mich zu konzentrieren, daher dauerte es eine Weile, bis ich erwiderte: „Willst du etwa jede meiner Freundinnen mit einem deiner Kumpels verkuppeln? Mary und Remus? Dorcas und Peter?"
„Praktisch wäre es", meinte James. Er drückte mir einen letzten Kuss knapp unters Ohr, bevor er den Kopf hob und die Nase in meinem Haar vergrub. „Aber ich glaube, Dorcas und Mary haben sich schon ganz gut arrangiert."
Ich runzelte die Stirn.
„Was meinst du?"
„Sind sie nicht die beiden, die da drüben über dem Geländer hängen und heftig rumknutschen?"
„WAS?!"

Augenblicklich riss ich mich von James los und fuhr herum.
Mit zu Schlitzen verengten Augen suchte ich die Umrandung der Plattform ab: Sirius und Peter Arm in Arm und sichtlich angetrunken, veranstalteten ein Wettspucken und konnten sich auf keinen Gewinner einigen, da sie vom Turm herunterspuckten, und so sehr sie sich auch übers Geländer reckten, einfach nicht sehen konnten, wessen Spucke weiter geflogen war. In gewissem Abstand zu den beiden dann Remus mit der brünetten Ravenclaw, die damals gemeinsam mit ihm in der Bibliothek gelernt hatte. Elena, glaubte ich mich erinnern zu können.
Daraufhin ein paar Sechstklässler ohne Oberteile, die versuchten ein paar kichernden und/oder beschwipsten Mädchen zu imponieren; ein einsamer Säufer, der den Mond anzuheulen schien; eine größere Gruppe und ...
Ich traute meinen Augen nicht.

Da standen tatsächlich zwei Mädchen, die meinen besten Freundinnen nicht unähnlich waren, hielten sich im Arm und küssten sich so stürmisch, als hätten sie schon ihr ganzes Leben lang auf diesen Moment gewartet.
„Wow", war alles, was ich hervorbringen konnte. „Wenn das so weitergeht, verpassen sie Neujahr."
„Lass sie doch", schmunzelte James, „die beiden haben echt Zeit genug verschwendet."
„Du wusstest davon?"
Fassungslos starrte ich meinen Freund an.
James zuckte mit den Schultern und fuhr sich mit einer routinierten Bewegung durchs Haar.
Mein Blick blieb kurz an seinem Bizeps hängen, der durch die Lederjacke, die er sich von Sirius geliehen hatte, deutlich hervortrat.
„Na ja, Mary hat viel Zeit mit Remus verbracht, um ihn um Rat zu bitten und so weiter. Es ist schließlich nicht so einfach, ein Coming Out zu planen ... und das auch noch, wenn man auf seine beste Freundin steht."
Er grinste mich schief an.
„Aber ... warum hat sie es mir nicht gesagt?", murmelte ich enttäuscht. „Sie hätte doch wissen müssen, dass ich kein Problem damit habe, dass sie auf Mädchen – oder eben auf Dorcas - steht."
„Du hattest doch selbst so viel um die Ohren", sagte James sanft und fing an, mit meinen Haaren zu spielen. „Denk nicht so viel, Lily. Konzentrier dich lieber auf mich."
Er wackelte anzüglich mit den Augenbrauen, was mir ein Lachen entlockte.

James breitete die Arme aus, und ich wollte mich gerade hineinstürzen, als ich heftig von der Seite angerempelt wurde und statt in James' Arme auf meinen Hintern flog.
„Wenn das jetzt Sirius ist, bring ich ihn ... Oh. Marlene."
Ich rieb mir zähneknirschend meinen Hintern.
Konnten James und ich nicht mal fünf Minuten allein sein?
Immerhin war es nicht mehr lange bis Mitternacht und ich wollte zu gern mit einem Kuss ins neue Jahr starten ...

„Dor und Mary!", hauchte Marlene mit weit aufgerissenen Augen, ohne weiter zu beachten, dass ich ihretwegen auf dem Boden saß.
Der nebenbei bemerkt eiskalt war.
„Sie... Sie... Sie küssen sich!", fügte sie hinzu, und ihre Augen wurden, wenn möglich, noch größer.
Ich fasste eine fast vollständig geleerte Flasche Feuerwhiskey in ihrer Hand ins Auge und zählte zwei und zwei zusammen.
Oh, bei Merlin.
Eine betrunkene Marlene hatte mir gerade noch gefehlt.
Wo war Hugo, wenn man ihn mal brauchte?!

Da immer noch niemand Anstalten machte, mir aufzuhelfen, rappelte ich mich schnaubend selbst hoch (wobei ich James einen vernichtenden Blick zuwarf), um Marlene die Flasche aus der Hand zu reißen.
„Marls", sagte ich, bemüht, laut und deutlich zu sprechen, und dabei nicht zu schreien, „das war genug Alkohol für heute."
„Sie küssen sich! Mit Zunge!", flüsterte Marlene ehrfürchtig.
Ich verzog das Gesicht. „Ah ja. Bitte keine weiteren Details."
„Die beiden sin' soooo süß zusammen", nuschelte Marlene, ohne auf mich einzugehen. „Ich wünsch'e, Hugo und ich wären soooo süß zusammen."
Bei diesen Worten stierte sie traurig die Whiskeyflasche in meiner Hand an.
„Ihr seid doch auch sehr süß", versuchte ich Marlene zu trösten.
James schaffte es gerade so, sein ungläubiges Auflachen mit einem Hustenanfall zu kaschieren.
„Meinst du eeeecht?" Marlene musterte mich misstrauisch. „Vielleicht sollten wir zusammen sein, Lily. Wir wären bestimmt süüüüß."
James' Husten wurde eine Oktave höher.
Ich starrte die Flasche in meiner Hand an und beschloss, mein selbst angeordnetes Alkoholverbot dieses Jahr nochmal kurz zu ignorieren.

Die Regel - Lily& James Ff ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt