Kapitel 97

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Wir landeten in einer unscheinbaren kleinen Gasse meines Heimatorts.
Ich sog gierig die dezemberkalte Luft ein, um das beklemmende Gefühl aus dem Brustkorb zu bekommen, das immer beim Apparieren entstand.
James machte ein paar unsichere Schritte auf dem Pflasterstein und musste sich an einem eingeschneiten Fensterbrett festkrallen, als er das Gleichgewicht verlor.
Ich unterdrückte ein Grinsen, da er den Ausrutscher sofort zu kaschieren versuchte, indem er betont cool sein schwarzes Haar zerwuschelte und mich in einem geschäftsmäßigen Ton fragte: „Also, wo geht's hin?"
„Nur die Gasse runter und dann links", murmelte ich, und sobald ich mir sicher war, dass ich wieder die Kontrolle über meinen Gleichgewichtssinn hatte, nahm ich James' Hand und zog ihn energisch an den windschiefen Häusern vorbei.
Mit der anderen Hand umklammerte ich fest den Träger meiner Reisetasche, in die James und ich etwas Wechselkleidung und Toilettenartikel gepackt hatten, für den Fall, dass wir nicht gleich heute wieder nach Hogwarts zurückkehren würden.

„Haben wir es eilig?", wollte James wissen.
Bei meinem hastigen Schritt gerieten wir auf dem feuchten Pflaster ständig ins Rutschen, was uns vermutlich wie ein stark angeheitertes Paar aussehen ließ.
Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr, die ich zu diesem besonderen Anlass heute Morgen um mein Handgelenk gelegt hatte.
„Ja, haben wir", beschloss ich. „Nur noch 2 Minuten, dann müssen wir da sein."
„Ich schätze das ist kein guter Moment, um dir zu sagen, dass du wirklich hinreißend aussiehst, wenn dir kalt ist, oder?"
Unwillkürlich musste ich schmunzeln.
James konnte den dicken Knoten aus Angst und Unsicherheit in meiner Magengrube zwar nicht lösen, aber seine Anwesenheit machte die Tatsache, dass ich gleich wieder meiner missmutigen Schwester unter die Augen treten musste, viel erträglicher.
Lächelnd schaute ich zu James auf.
„Du stehst also auf rote, laufende Nasen und von der Kälte aufgeraute Hände?"
„Nein, aber mir gefallen die Schneeflocken in deinen Haaren und deine geröteten Wangen. Du siehst aus wie ein kleiner Weihnachtsapfel."
James zwinkerte mir zu und ich musste prusten.
„Ist das wieder eine dieser Andeutungen, dass ich zu rund bin und mehr Sport treiben sollte?", hakte ich nach, während wir um die Ecke hasteten und in eine neue Gasse bogen.
Ich konnte schon die großen, beschlagenen Fenster der Pizzeria, in der ich früher oft mit meiner Familie zusammen gegessen hatte, am Ende der Straße ausmachen.
„Nein, keine Sorge. Ich möchte dich nicht davon abhalten, dir gleich eine ganze Pizza zu bestellen."
Ich schnaubte. „Wahrscheinlich werde ich sowieso keinen Appetit haben."
James wollte protestieren, doch ich brachte ihn hektisch zum Schweigen und beschleunigte meine Schritte.

In dieser Straße war der Schnee nicht geräumt worden, sodass unsere Schuhe im kühlen Nass verschwanden.
Ich verfluchte mich in Gedanken dafür, dass ich weiterhin meine roten Chucks trug, deren Stoff gerade völlig durchweicht wurde.
In einer anderen Situation hätte ich mir vielleicht mehr Zeit genommen, um meinen Heimatsort zu bewundern, der wie jedes Jahr weihnachtlich geschmückt war und mit der weißen Schneedecke überzogen gemütlich und angenehm ruhig wirkte.
Vielleicht hätte ich mich zu einer kleinen Schneeballschlacht mit James hinreißen lassen und ihm mein altes Zuhause gezeigt, den Spielplatz, auf dem ich mich vor so langer Zeit mit Sev getroffen hatte, die Grundschule, die ausladenden Wiesen am Ortsausgang.
Doch so hatte ich keinen Blick für die erleuchteten Fenster und urigen Backsteinhäuschen übrig, ich wollte so schnell wie möglich in diese Pizzeria kommen, um Petunia keinen Grund zum Pikierte- Blicke- Austeilen zu geben.

Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, hatten wir die schwere Holztür, die in die Pizzeria führte, erreicht, und James, der zu verstehen schien, wie gestresst ich war, hielt sie mir ohne ein weiteres Wort auf.
Ich lächelte ihn kurz an und schlüpfte unter seinem Arm hindurch.
Augenblicklich empfing mich wohlige Wärme und der Duft nach frisch gebackenem Teig.
Ich schaute mich um und mir traten die Tränen in die Augen: Alles sah noch genauso aus wie früher, als Tunia und ich meist als Belohnung für gute Zeugnisse hierhergekommen waren und so viel Pizza und Cola bestellen durften, wie wir wollten, während unsere Eltern sich ein Menü teilten und die ganze Zeit über verliebte Blicke austauschten, über die Petunia und ich uns häufig lustig gemacht hatten.
Jetzt im Nachhinein erfüllte es mich mit Stolz, dass die beiden so eine glückliche Ehe geführt hatten.
Wenigstens hatte keiner von ihnen ohne den anderen weiterleben müssen, dachte ich traurig, während James mir galant den Wintermantel abnahm und an die Garderobe hängte.

Erneut ließ ich meinen Blick über die altmodisch wirkenden, schweren Holztische gleiten, die farbenfrohen Wände, die mit unbeweglichen Fotografien geziert waren, die das Meer, das Straßenleben Italiens und glückliche, lächelnde Gesichter zeigten, bis mein Blick an einem Tisch in der hinteren Ecke hängenblieb.

Von dort aus starrte Petunia unverhohlen zu uns herüber, beziehungsweise, zu James herüber, der seinerseits gerade seine Jacke ablegte.
Mir wurde wiedermal bewusst, wie gut James aussah: Sein rotes Hemd, das er aufgrund des besonderen Anlasses ausgewählt hatte, betonte seine breiten Schultern und die wohlgeformten Oberarme, während die Muggeljeans seine schmalen Hüften und langen Beine erkennen ließen.
Sogar Petunia, die einen definitiv völlig gestörten Männergeschmack besaß, schien die Augen nicht von der hochgewachsenen Gestalt meines Freundes nehmen zu können.
Ebenso wenig wie die dunkelhaarige Kellnerin, die plötzlich angewuselt kam und uns mit fröhlicher Stimme fragte, wo wir denn Platz nehmen wollten.
Ich musste mich korrigieren: Sie fragte nicht uns, sie fragte James.
In mir wuchs das dringende Verlangen, mein Revier zu markieren.
Die Kellnerin war höchstens 20; eine sehr attraktive Italienerin.
Ich dagegen war leider nicht Sirius, sonst hätte ich mich mal eben in einen Hund verwandelt und an James Bein gepinkelt.

So aber legte ich eine Hand um James' Oberarm und teilte der hübschen Italienerin schmal lächelnd mit, dass wir uns zu unseren Bekannten dort hinten gesellen würden.
Nach einem letzten enttäuschten Blick auf James verschwand sie wieder, mit dem Versprechen, gleich unsere Bestellung aufzunehmen.
„Wir sollten dringend das Menü für zwei bestellen", grummelte ich.
„Hast du solchen Hunger?", fragte James verwundert.
Ich verdrehte die Augen. „Ich esse das Menü für zwei doch nicht allein, James. Ich möchte der süßen Kellnerin nur unterschwellig mitteilen, dass wir beide zusammengehören."
„Hättest du mal dein Geweih aufgesetzt."
Ich schlug mir die Hand vor den Mund, um ein Kichern zu unterdrücken.
Die Vorstellung, zu einem Treffen mit Petunia mit einem Geweih-Haarreif aufzutauchen, war völlig absurd und komisch zugleich.

Das Lachen verging mir jedoch gleich wieder: Wir hatten uns einen Weg durch die kreuz und quer stehenden Tische gebahnt und konnten jetzt auf Vernon und Tunia herabblicken, die keine Anstalten machten, sich zu erheben, um uns zu begrüßen.
Ich schob die leise Empörung über diese kleine Provokation beiseite.
Stattdessen zwang ich mich zu einem herzlichen Lächeln und sagte so überschwänglich ich konnte: „Fröhliche Weihnachten, Tunia und Vernon!"


Die Regel - Lily& James Ff ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt