Kapitel 26

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Das war ein Fehler gewesen.
Ein ganz deutlicher Fehler.
Verdammt, warum hatte James mich nicht zurück ins Schloss geschickt?
Ich würde verrecken. Ich würde sowas von verrecken.
Es war stockfinster und ich sah nichts. James hatte jedem von uns ein fettes Schlagholz in die Hand gedrückt, und das Ding wog so viel, dass es mich auf der rechten Seite nach unten zog.
Ich konnte es jedoch nicht mit zwei Händen halten, da ich sonst vom Besen gefallen wäre.
Noch dazu war Wind aufgekommen.
Alles in allem standen meine Chancen gleich null.
Nicht, dass irgendjemand etwas anderes erwartet hätte.
Dabei hatte dieses verflixte Auswahlspiel noch nicht mal angefangen. James hielt die zappelnden Klatscher immer noch mühevoll in den Armen.
Er erklärte uns etwas, doch ich konnte nicht zuhören, da ich zu sehr mit die- Klatscher- ängstlich- anstarren und nicht- vom- Besen- fallen beschäftigt war.
„Lily Evans, du und deine große Klappe", knurrte ich leise zu mir selbst.
Wieder kam ein plötzlicher Windstoß auf und hätte mich beinahe vom Besen gefegt. Ich konnte mich gerade so mit dem Schläger ausbalancieren.
Als ich den Blick wieder hob, grinste Malcolm mich hämisch an. Mit dem Schlagholz in der Hand sah er noch viel bedrohlicher aus.
„Okay, seid ihr bereit?", beendete James seine Ansprache.
Nein.
„Ja!", brüllten die anderen.
„Ja", murmelte ich matt hinterher.
Ein gellender Pfiff, dann ließ James die Bälle los und riss blitzschnell seinen Besen herum. Ich sah noch kurz, wie er zum Boden flog und sich selbst ein Schlagholz holte, da kam auch schon der erste Ball direkt auf meine Nase zugeflogen.
Verräterische kleine Biester. Konnten die schwache Spieler etwa riechen?
Schwerfällig riss ich meinen Schläger hoch und schaffte es irgendwie, das Ding von mir fernzuhalten. Zwar flog der Klatscher in keine besondere Richtung, aber ich hatte überlebt.
Ich riss mit dem rechten Arm an dem schweren Holz, um es wieder in eine aufrechte Position zu bringen, und hätte mir dabei fast selbst eins auf die Nase gegeben. Dass ich noch keinen Zentimeter von meiner Anfangsposition weggeflogen war, brauche ich wohl gar nicht zu erwähnen.
„Scheiße", murmelte ich, lud den Schläger auf meiner Schulter ab und ruckelte ein bisschen hin und her, bis ich im Schneckentempo losflog.
Die anderen waren mit ihren Schlaghölzern längst Richtung Torringe vorgedrungen und droschen wie wild auf die Klatscher ein, jeder darauf bedacht, den anderen unbedingt zu treffen. Zu meiner Missbilligung spielte Malcolm ziemlich gut.
Und ziemlich aggressiv.
Ich glaubte zu erkennen, wie er fast James höchstpersönlich von seinem Besen gefegt hätte, was ihm einige wütende Pfiffe einbrachte.
Weiter konnte ich das Spiel nicht beobachten, denn mein Besen hatte den Rückwärtsgang entdeckt, und nun flog ich in die völlig verkehrte Richtung.
Das musste zum Schreien komisch aussehen.
Hoffentlich waren im Schloss schon alle schlafen gegangen, sonst würde mein Ruf als Schulsprecherin flöten gehen.
„Komm schon, du blödes Stück Holz", grummelte ich genervt. „Lass mich nicht im Stich!"
Der Besen bockte zur Antwort. Ich wurde nach vorne geschleudert und schlug mit dem Kinn auf der Spitze des Stiels auf. Diese Position ermöglichte mir einen ganz fantastischen Blick auf den Boden – gefühlte 30 Meter unter mir.
Mir wurde augenblicklich schlecht. In meinem Kopf begannen die Gedanken verrückt zu spielen, ich geriet in Panik während alles in mir schrie: Runter! Sofort runter!
„Bleib auf dem Besen, bleib auf dem Besen", murmelte ich mit zitternden Lippen. Blut lief mir übers Kinn; ich hatte mir auf die Zunge gebissen.
Irgendwie kam ich wieder in eine sitzende Position. Meine linke Hand hatte den Besenstiel losgelassen, stattdessen umklammerte ich nur noch mein Schlagholz. Schwankend und zitternd hockte ich auf dem Besen, ohne zu bemerken, dass dieser sich nun doch vorwärtsbewegte.
Vor meinen Augen tanzten bunte Pünktchen, und es dauerte ein bisschen, bis ich kapierte, dass dies meine Mitspieler waren.
Mein Besen ruckelte heftig und ich wurde durchgeschüttelt. Anscheinend hatte mich ein Klatscher getroffen. Benommen wie ich war, rutschte ich langsam zur Seite.
Das schwere Holz in meinen Händen war dabei ziemlich hilfreich.
Mein Kopf kippte zur Seite und ich starrte nach unten.
Wie weit weg ich wohl vom Boden war? In der Dunkelheit konnte ich den Grund nun nicht mal mehr erkennen.
Keine angenehme Vorstellung, jetzt zu fallen... bald würde es wohl nicht mal mehr eine Vorstellung sein, sondern die Realität...
Jemand rief meinen Namen. Vor Schreck rutschte mir das Schlagholz aus den Händen.
Ich sah, wie es im Schwarz der Nacht verschwand.
„Lily, halt dich an deinem Besen fest!"
James' vertraute Stimme ließ mich aufblicken.
Warum sah er so ängstlich aus? Was war los?
Ich drehte den Kopf in die Richtung, in die James schaute und sah einen schwarzen Punkt auf mich zurasen.
Ein Klatscher.
Gleich würde er mich erreichen und endgültig zu Boden gehen lassen.
Meine Augen waren immer noch fest auf den Klatscher gerichtet, als plötzlich etwas großes, rotes an mir vorbeizischte. Ich hörte das Splittern von Holz, dann einen Schrei.
Ich war diejenige, die schrie.
James' Schläger war unter der Wucht des Klatschers zersplittert, und statt meilenweit weg von uns befördert zu werden, war der Klatscher direkt in James hineingerast, der das große rote Etwas darstellte, das schützend vor mich geflogen war.
Und ich schrie, weil ich nun einen roten Umhang auf den Boden zurasen sah.
„JAMES!", brüllte ich so laut, dass es in meinem Kopf vibrierte.
Was ich als Nächstes tat, war wohl eine dieser Reaktionen, bei denen allein Adrenalin und Muskeln handeln, denn mein Kopf war zu benebelt, um auch nur einen Gedanken zu fassen, geschweige denn, mich das tun zu lassen, was ich tat:
Zum ersten Mal in meinem Leben flog ich.
Und zwar so richtig.
Ich riss meinen Besen herum und verfiel in einen Sturzflug.
Die Spitze des Besenstiels zeigte senkrecht zu Boden, und ich klammerte an dem Fluggerät, wie ich es bisher nur bei James persönlich gesehen hatte.
Ich raste so schnell auf den Boden zu, dass ich James' Gestalt wieder in der Dunkelheit ausmachen konnte.
Irgendein Schalter in meinem Kopf fiel um, und ich erinnerte mich an den Zauberstab im Bund meiner Sporthose.
Immer noch rein instinktiv angetrieben, zog ich ihn heraus und brüllte ein Wort, von dem ich nicht mal hörte, was es war.
Doch ich sah die Wirkung.
Ich sah, wie James' Fall ausgebremst wurde, ich sah, wie er ganz vorsichtig zu Boden glitt.
„Ich habe James Potter gerettet. Meinen Erzfeind", war das letzte was ich dachte, bevor urplötzlich Gras vor meiner Nase auftauchte und mir schwarz vor Augen wurde.


Die Regel - Lily& James Ff ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt