Kapitel 93

7.9K 446 123
                                    

„Ich habe Mary eben mit Remus in der Bibliothek gesehen", sagte Dorcas mit grimmiger Miene beim Abendessen.
Verwundert schaute ich von meinem Steak – man gönnte sich ja sonst nichts – auf, und blinzelte zu meiner molligen Freundin hinüber.
„Und was ist daran so schlimm?", hakte ich vorsichtig nach.

Ich hatte Mary in letzter Zeit genauestens beobachtet, um herauszufinden, wer ihr heimlicher Geliebter war. Bisher war ich nicht zu einem festen Entschluss gekommen, aber mir war ebenfalls aufgefallen, dass Mary viel Zeit in der Bibliothek verbrachte – wo man auch Remus oft traf.
Und normalerweise auch mich, aber James ließ mich seit dem Vorfall mit den Slytherins abends nicht mehr allein nach draußen.
Anfangs war ich noch mit ihm gemeinsam in die Bibliothek gegangen, allerdings schädigte James meinem Konzentrationsvermögen so sehr, dass ich jede Zeile teils drei Mal lesen musste, und das war wirklich nicht Sinn der Sache.

„Remus sollte mit Elena zusammenkommen", knurrte Dorcas, wobei sie so sehr auf ihr Steak einstieß, als wollte sie ein Loch in die Tischplatte darunter schnitzen.
Ich runzelte die Stirn.
„Wieso sollte er das? Wenn Mary auf ihn steht, wünsche ich es ihr viel eher als irgendeiner Elena."
„Mary ist zu feinfühlig für ihn", erklärte Dorcas.
Die Runzeln auf meiner Stirn vertieften sich. „Remus ist der feinfühligste Mensch, den ich kenne."
„Eben! Sie sind sich zu ähnlich."
Dorcas stopfte sich, zufrieden mit dieser Erklärung, ein Stück Fleisch in den Mund.
Kopfschüttelnd starrte ich sie an.
„Du willst nur nicht, dass Mary deinen Single-Club auch noch verlässt, oder? Dor, ich kann verstehen, dass es mies ist, die einzige zu sein, die noch keinen Partner fürs Leben im Auge hat, aber weißt du, egal wer welchen Jungen liebt, wir vier werden immer füreinander da sein."
Zur Bekräftigung meiner Worte griff ich über die Tischplatte hinweg nach Dorcas' Hand und drückte sie fest. Dabei sah ich ihr tief in die Augen.
„Ehrlich, Dor."
Dorcas warf mir einen leicht angesäuerten Blick zu. „Hör auf, so sentimental zu sein, Lily, das ist seltsam."
Überrumpelt ließ ich mich wieder nach hinten fallen.
Was war denn bitte in Dorcas gefahren?
„Wieso bist du so zickig?", fragte ich ohne Umschweife.
Wenn Dorcas kein Feingefühl hatte, musste ich das auch nicht bringen.
„Ach, dieser ganze Liebesquatsch geht mir so auf den Keks! Und wer sagt denn bitte, dass ich keinen potenziellen Partner ins Auge gefasst habe? Ihr tut alle so, als wäre es meine Bestimmung, für immer Single zu bleiben!"
Meine anfängliche Verblüffung schlug in pures Entsetzen um.
„Aber ... aber ... das hast du selbst dauernd gesagt", stammelte ich hilflos.
Dorcas kaute wütend auf dem letzten Stück ihres Steaks herum.
Ihr aggressiver, hastig mahlender Kiefer ließ sie dabei aussehen wie ein zorniges Flussnilpferd.
„Ja, nun, meine Meinung hat sich geändert. Nur dass ihrs wisst: Ich bin genauso fähig, mich zu verlieben, wie alle anderen auch."
Mit diesen Worten knallte sie ihre Gabel auf den Tisch und rauschte aus der großen Halle.
„Dorcas!", rief ich ihr verzweifelt hinterher, doch ihr kurvenreicher Körper war schon längst im Gewühl der Menge verschwunden.

Verwundert starrte ich auf mein Abendessen.
„Na sowas", murmelte ich. „Und das alles kurz vor Weihnachten."
Den Rest meines Steaks musste ich allein verputzen, und dabei nutzte ich die Zeit zum Nachdenken.
Dorcas' plötzlicher Ausbruch musste einen triftigeren Grund haben, als dass wir anderen uns zurzeit alle verliebten.
Vor allem, da sie ja meinte, sie wäre selbst auch verliebt – also sollte doch alles gar kein Problem sein, oder?
Am Ende meines Gerichts hatte ich drei Möglichkeiten ins Auge gefasst:

1. Sie hatte einfach ihre Tage. Wahlweise auch Unterzuckerung, allerdings hatte sie ja gerade ein ganzes Steak runtergeschlungen.
2. Dorcas war zwar, wie sie gesagt hatte, verliebt – aber eben unglücklich verliebt. Eventuell in Remus. Und deswegen hatte sie so überreagiert, weil Mary mit ihm in der Bibliothek gewesen war.
3. Wir anderen hatten ihr irgendwie das Gefühl gegeben, dass sie nicht reif genug für einen Freund wäre oder so und nun hatte die arme Dorcas Minderwertigkeitskomplexe.

Ich war ziemlich stolz auf meine Vermutungen, wobei ich hoffte, dass keine von ihnen zutreffend war.
Dorcas war schließlich eine meiner besten Freundinnen und ich wünschte ihr weder Bauchkrämpfe, noch eine unglückliche Liebe noch ein geringes Selbstwertgefühl.
Und das alles erst recht nicht so kurz vor Weihnachten.
Ich beschloss, meine Freundin zur Rede zu stellen.
In den letzten Monaten hatte ich gelernt, dass Kommunikation jegliche Probleme aus der Welt schaffen konnte. Wenn einen etwas störte, musste man sich einfach nur ruhig hinsetzen, seine Gedanken sammeln und sie dann in sachlichem Ton vor der verantwortlichen Person ausbreiten.
Das half immer – außer vielleicht bei Personen wie Petunias Walross, denen es an einem gewissen Intelligenzgrad fehlte, den man für so ziemlich alles brauchte.
Ein Wunder, dass Vernon intelligent genug war, zu atmen.
Vermutlich hatte eine Banane einen höheren IQ als er.
Während ich überlegte, ob Pflanzen als Lebewesen einen IQ hatten, und wenn ja, wie hoch dieser war, machte ich mich auf die Suche nach Dorcas.

Nach einer gefühlten Ewigkeit des sinnlosen Umherwanderns kam sie mir irgendwann entgegen: An ihrer Seite strahlte Mary vor sich hin, einen dicken Bücherstapel in den Armen.
Schnellen Schrittes lief ich auf die beiden zu, um Mary vor einem weiteren Ausbruch Dorcas' schlechter Laune zu bewahren.
Doch je näher ich den beiden kam, desto überraschter war ich, als ich sah, dass Dorcas' Gesicht ebenfalls ein großes Lächeln zierte.
Überhaupt wirkte sie wie ausgewechselt.
Statt wie ein galoppierendes Nilpferd alles und jeden in Grund und Boden zu stampfen, schienen ihre Schritte jetzt beinahe schwerelos zu sein.
Misstrauisch näherte ich mich den beiden und blieb schließlich vor ihnen stehen.

Mary lächelte mich zur Begrüßung an.
„Oh, hey, Lils. Ich hab' hier ne echt interessante Lektüre gefunden, falls du gerade nichts zu lesen hast?"
Mary hielt mir einen dicken Wälzer unter die Nase.
Ich warf einen zerstreuten Blick auf das Buch, schaute dann wieder zu der zufriedenen Dorcas und wedelte hektisch mit der Hand.
„Was? Nein, nein, nein, danke. Ich bin wegen Dor hier."
Dorcas schaute mich mit schief gelegtem Kopf an. „Wegen mir? Wieso das denn?"
Irritiert musterte ich ihre echt aussehende Verwunderung.
„Na, weil du eben erst noch richtig ausgetickt bist. Ich dachte, du brauchst vielleicht eine Freundin, die dich in den Arm nimmt."
„Stimmt das?" Mary warf Dorcas einen besorgten Blick zu. „Dor, was ist denn los?"
Doch Dorcas winkte nur ab.
„Ach, alles halb so wild. Ich hab nur nicht genug gegessen. Mary, du hast doch noch nichts gegessen, oder? Wollen wir uns zusammen hinsetzen?"
Mary sah kurz nicht sehr überzeugt aus, allerdings schien der Hunger zu siegen.
„Okay, ja. Aber falls irgendwas nicht stimmt, erzählst du es mir sofort, klar?"
Dorcas lächelte Mary dankbar an.
„Das ist lieb von dir."
Strahlend hakte sie sich bei Mary unter und spazierte mit ihr den Gang hinunter.
Für mich hatten beide nur noch ein flüchtiges Winken übrig.
Verdattert sah ich meinen Freundinnen hinterher.
Also entweder war Mary einfach eine Wunderheilerin oder es steckte mehr dahinter.
Vielleicht hatte Mary Dorcas gerade erzählt, dass Remus und sie nur Freunde waren?

Die Regel - Lily& James Ff ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt