Kapitel 46

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Mary bekam die gesamte nächste Woche frei, um ihre Familie zu besuchen.
Ich dagegen versteckte mich weiterhin in meinem Zimmer und vermied jeglichen Kontakt zur Außenwelt.
Mary hatte darauf bestanden, dass wir uns Marlene und Dorcas anvertrauen mussten, da diese sich schon schreckliche Sorgen machten.
Das Gespräch war furchtbar sentimental gewesen und absolut nichts für meine schwachen Nerven, aber wenigstens verstanden sie jetzt, dass ich Zeit brauchte und alleingelassen werden wollte.
Na ja. Nicht ganz allein.
James war viel bei mir. Manchmal dauerten seine Besuche nur ein paar Sekunden, in denen er mir etwas zu Essen brachte oder einfach den Kopf zur Tür hereinsteckte (das Passwort hatte er irgendwie herausgefunden), um nach mir zu sehen.
Manchmal blieb er lange da und half mir beim Einschlafen, indem er einfach redete oder mir zuhörte, während ich ihm all den Schmerz anvertraute.
Ich wusste nicht, woher dieses plötzliche Gefühl des tiefen Vertrauens kam, aber James war wirklich gut im einfach da sein, und ich war viel zu kaputt, um weiter darüber nachzudenken, was das zu bedeuten hatte.
Also ließ ich es zu, dass ich mich ihm immer mehr öffnete und ihm diese Dinge anvertraute, die ich sonst nicht ausgesprochen hätte.
Oft fing ich dabei an zu weinen oder zu schreien, aber James ging nie. Er ließ sich nicht verschrecken, er blieb da und beruhigte das Monster, das das Leid in mir hervorrief.
Und ich wusste, ich würde ihm ewig dafür dankbar sein.
Der Streit wegen der blöden Liste war weit in die Ferne gerückt, mittlerweile fragte ich mich selbst, wozu das ganze Drama, wozu auch nur eine friedliche Minute des Lebens mit Streit verschwenden.
Ich hatte solche Sprüche wie „Das Leben ist so kurz, genieße es in allen Zügen" immer doof gefunden, aber jetzt verstand ich, dass sie im Recht waren.
Alles konnte verdammt schnell enden, und man musste aufpassen, sonst hatte man sich vielleicht gerade mit einer geliebten Person gestritten, und hinterher war es zu spät, diese dämliche Kleinigkeit wieder zu beseitigen.
Genau aus diesem Grund schrieb ich auch Petunia einen Brief, obwohl ich drei Mal von vorne anfangen musste, weil meine Tränen das Papier durchnässt hatten.

Liebe Petunia,
Wie geht es dir? Was für eine bescheuerte Frage.
Sicher geht es dir ähnlich schrecklich wie mir.
Bestimmt kannst du auch nicht mehr einschlafen, weil du ständig an Mum und Dad denken musst. Ich hoffe, Vernon hilft dir, über deinen Schmerz hinwegzukommen. Ich verstehe jetzt, dass es gut ist, dass du ihn hast, und es tut mir leid, dass ich ihm gegenüber unhöflich war.
Ich möchte, dass du glücklich bist und dass es dir gut geht, Tuni, und wenn er dir dabei hilft beziehungsweise der Grund dafür ist, finde ich das okay.
Mehr als das, ich wünsche euch alles Gute. Wenn du ihn heiraten möchtest, dann tu das, und ich hoffe, ihr werdet eines Tages so tolle Elter werden wie Mum und Dad es waren.
Ich hoffe auch, dass wir unseren Streit irgendwann hinter uns lassen können, dass wir wieder Schwestern sein können.
Mum und Dad hätten es sich sicher auch gewünscht.
Ich weiß, dass du wütend auf mich bist, und glaub mir, ich war es auch auf dich.
Aber angesichts der letzten Geschehnisse finde ich es einfach nur dumm, dass wir einfach zusehen, wie unser Verhältnis zueinander immer mehr den Bach runtergeht.
Du bist meine Schwester, meine Familie.
Ich habe dich lieb und ich vermisse wie es war.
Du nicht auch?
Bitte nimm dir die Zeit und antworte mir.
Könntest du mir außerdem den Termin von der Beerdigung schicken?
Ich möchte richtig Abschied nehmen.
In Liebe,
Lily

Die Antwort meiner Schwester fiel recht knapp aus, sie nannte mir den Termin für die Beerdigung (sie fand bereits am Samstag statt) und schlug vor, alles Weitere dort zu besprechen.
Ich beschloss, dass ich mich damit zufriedengeben musste, auch wenn es schmerzte, eine solche Abfuhr kassiert zu haben.
Aber was hatte ich auch erwartet? Einen dreiseitigen Brief voller Entschuldigungen und Reue? Nicht von meiner Schwester.
Also musste ich bis zum Samstag warten.

Am Freitagabend konnte ich wieder nicht einschlafen.
Die Vorstellung, in meinen Heimatort zurückzukehren, schmerzte und ängstigte mich zugleich.
Außerdem kam mir dies vor wie ein endgültiger Abschied.
Ich würde danach ziemlich sicher nicht mehr in mein Elternhaus zurückkehren, die wichtigsten Dinge beherbergte ich ohnehin in Hogwarts, und ohne Mum und Dad hielt mich dort nicht mehr viel.
Was würde das für ein Gefühl sein, sie unter der Erde zu wissen?
Wer würde zur Beerdigung kommen?
Und was würde Petunia sagen?
Mein Kopf war so voller Sorgen, dass sie beinahe den Schmerz, meinen Dauergast, überragten.
Wo sollte ich nach der Schule hin? Ich hatte außer Hogwarts kein Zuhause mehr, und das Jahr ging sicher schneller vorbei, als ich gucken konnte.
Dort draußen, außerhalb der Mauern, wartete eine mir nicht gerade freundlich gestimmte Welt. Muggelstämmige, Schlammblüter, wir waren die ersten auf der Abschussliste.
Ich hatte Angst.
Und da brachte es nichts, ewig in einem dunklen Zimmer zu liegen, die Decke anzustarren und sich im Bett hin- und herzuwälzen.
Irgendwann gab ich es auf.
Ich kletterte aus dem Himmelbett und tapste auf nackten Füßen zum Bücherregal. Meine Finger tasteten in der Dunkelheit die Buchrücken ab, bis ich glaubte, das richtige Exemplar gefunden zu haben.
Ich zog kräftig daran.
Meine Hoffnung ging in Erfüllung: Der Schrank bewegte sich leise knarzend, wie beim ersten Mal, und der geheime Mauerspalt tat sich auf.
Zitternd drückte ich mich hindurch und schob James' Bücherregal auf der anderen Seite aus dem Weg.
Er schlief schon, weshalb ich unbemerkt den Bücherschrank wieder an seinen Platz rücken konnte. Dann schlich ich mich zur Tür und öffnete sie, so konnte ich James später sagen, dass sie noch offen gestanden hatte.
Unschlüssig blieb ich vor seinem Bett stehen.
Durch das schwache Mondlicht konnte ich seine Gestalt nur schemenhaft erkennen, er lag mit dem Gesicht zur Wand auf dem Bauch und hatte Arme und Beine weit von sich gestreckt.
Ein leises Schnarchen durchschnitt die Stille im Raum, immer wenn er einatmete.
In einem anderen Moment hätte ich es vielleicht süß gefunden.
Jetzt war ich zu sehr mit meinen eigenen Sorgen beschäftigt.
Auch wenn es normalerweise nicht so war: ein wacher James Potter wäre mir gerade doch lieber als ein schlafender.
Auf Zehenspitzen tapste ich näher und beugte mich über ihn, um ihn zu wecken.

Die Regel - Lily& James Ff ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt