Kapitel 99

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Kaum hatte ich die Pizzeria verlassen, schlug mir eine eisige Kälte ins Gesicht.
Ein kräftiger Wind war aufgekommen, der mir feuchten Schneeregen entgegen peitschte und erbarmungslos an meiner dünnen Gestalt zerrte.
Auf dem matschigen Grund schlitternd setzte ich mich dennoch in Bewegung, den Kiefer verbissen zusammengepresst.
Tränen liefen über mein Gesicht.
Mir war klar, dass James nur sein Zuhause, seine Freunde und seine Familie verteidigt hatte, aber ich konnte einfach nicht umhin, ihm Vorwürfe dafür zu machen, dass er auf diese Weise meine Familie vergrault hatte.

Andererseits konnte ich Petunia und Vernon langsam wirklich nicht mehr als meine Familie bezeichnen.
Wenn ich ganz ehrlich war, war James inzwischen viel mehr eine Art Familie für mich als meine eigene Schwester.
Er war immer für mich da und ertrug geduldig all meine seltsamen Stimmungen und Macken, er vertraute mir und war ein wahrer Gentleman.
Und was tat ich?
Ich schrie ihn an und ließ ihn allein in einer völlig fremden Gegend zurück.
Plötzlich bereute ich meinen spontanen Abgang.
Bei der Vorstellung von einem verlorenen James, der traurig an einem einsamen Tisch in der Pizzeria saß und sich fragte, was er eigentlich falsch gemacht hatte, fing ich noch heftiger an zu weinen. 

Augenblicklich drehte ich mich um und stolperte die Straße wieder zurück.
Weit war ich nicht gekommen – schon auf halbem Weg kam James mir entgegengestürmt.
In der frühen winterlichen Dunkelheit und dem Schneetreiben um uns herum konnte ich ihn fast nicht erkennen, doch sein verzweifeltes Rufen war schon von weitem zu hören: „Lily! Verflucht nochmal, Lily! Wo bist du?"
„Hier!", brachte ich erstickt zwischen zwei Schluchzern hervor, dann rannte ich in ihn hinein und schlang ganz fest die Arme um ihn.
„Merlin sei Dank. Du kannst doch nicht einfach bei diesem Wetter verschwinden!", schimpfte James, aber seine Stimme klang vorsichtig und sanft.
Ich heulte in seinen Mantel wie ein Nebelhorn.
„Na komm", sagte er, wieder etwas ruhiger. „Suchen wir uns eine Pension. Ist hier in der Nähe eine oder sollen wir nach London apparieren und uns in der Winkelgasse was suchen?"
„London", schniefte ich. 

Kaum einen Augenblick später spürte ich festes Pflaster unter meinen Füßen, und um mich herum toste der Londoner Verkehr.
Auch hier wütete der Schneeregen, wenn auch nicht so sehr wie in meinem kleinen Heimatort.
James bugsierte mich sanft von der Straße ins Innere eines schäbigen Gasthauses; ich verbarg mein verheultes Gesicht wie ein kleines Kind weiter in seinem Mantel, während wir den Tropfenden Kessel betraten.
Nur am Rand bekam ich mit, wie James ein paar Worte mit Tom, dem Inhaber des Gasthauses, wechselte, und ließ mich anschließend von James durch ein Labyrinth aus Stühlen und Tischen schieben.
Erst bei der Treppe am Ende des urigen Raumes ließ ich von James ab und stieg schnellen Schrittes zum oberen Stockwerk empor, wobei ich die neugierigen Blicke der anderen Gäste in meinem Rücken spürte.
Obwohl es hier drinnen um einiges wärmer war, bekam ich eine Gänsehaut.
Schweigend gingen James und ich einen langen Flur entlang.
Unsere Füße hinterließen nasse Spuren auf den Holzplanken, die ab und zu ein angenehmes Knarren von sich gaben. 

James blieb irgendwann stehen, nahm mir die Reisetasche aus der Hand und schob mich sanft aber bestimmt in ein kleines Zimmer, gerade groß genug für zwei.
Ich hielt mich nicht weiter damit auf, mich näher mit meiner Umgebung auseinanderzusetzen, ich streifte einfach schnell meine Schuhe ab und schlüpfte aus dem nassen, mit Schneeregen vollgesogenen Mantel, um mich auf das große Himmelbett zu werfen, das den größten Teil des Raumes ausmachte.
Zu einer Kugel zusammengerollt starrte ich auf die Bettdecke, ohne sie wirklich zu sehen.
Vor meinem geistigen Auge spielte sich immer noch die schreckliche Szene des vergangenen Nachmittags ab: James und Vernon, die sich mit Wörtern duellierten, und Petunia, die im Eifer des Gefechts rot anlief.
Mich durchlief ein Schaudern. 

„Ist dir kalt?", fragte eine leise Stimme hinter mir.
James hatte sich ebenfalls Schuhe und Jacke ausgezogen und war ans Bett herangetreten.
Ohne ihn anzusehen, schüttelte ich den Kopf.
Die Matratze gab unter seinem Gewicht nach, als er aufs Bett krabbelte und mich dennoch zudeckte.
Dann ließ er sich schweigend neben mir nieder. Seine zum Schneidersitz verschränkten Beine berührten meinen Rücken und wärmten mich mehr, als es die Decke tat.
Eine Weile lang schwiegen wir.
Als ich schließlich das Schweigen brechen wollte, kam James mir zuvor.
„Bist du wütend?"
Ich seufzte und drehte mich zu ihm herum.
Er schaute ernst auf mich herunter. Ich griff nach seiner Hand, die neben meinem Kopf auf der Matratze lag, und drückte sie.
„Nicht mehr. Tut mir leid, dass ich dich so angefahren habe. Das war nicht fair."
Ich nagte unzufrieden auf meiner Unterlippe herum.
„Aber?", hakte James nach.
Ich schielte zu ihm nach oben. „Ich wünschte, du hättest dich nicht auf dieses Gespräch mit Vernon eingelassen. Da muss ich ehrlich sein."
James ließ den Kopf hängen. „Ich weiß, Lils. Es tut mir wirklich leid. Aber ..."
„Er hat es provoziert, ich weiß schon. Ich hätte damit rechnen müssen, dass es dir schwerfallen würde, dein Temperament ihm gegenüber zu zügeln."
Ich lächelte schwach. „Wer lässt sich schon gerne von einem Walross triezen?"

„Es tut mir wirklich leid, Lily. Beim nächsten Mal benehme ich mich besser, versprochen."
Doch ich schüttelte den Kopf. „Nein, James. Es wird kein nächstes Mal geben."
Überrascht sah er mich an. „Wie meinst du das?"
Ich drehte mich auf den Rücken und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
Traurig blickte ich zum Dach des Himmelbetts hinauf.
„Ich bin durch mit Petunia", antwortete ich schließlich.
Unsere Blicke trafen sich.
James sah überrascht aus, aber verständnisvoll. „Bist du sicher? Du liebst sie."
„Das ändert nichts daran, dass sie mich nicht mehr liebt. Sie hat sich für ein anderes Leben entschieden, in das ich nicht hereinpasse. Es wird Zeit, dass ich das erkenne und sie loslasse."

Wieder sank die Matratze ein bisschen ein, als James sich neben mich legte.
„Nun ja", sagte er gedehnt, wobei er eine Hand nach meinem Haar ausstreckte und begann, eine rote Strähne um seine Finger zu wickeln, „manchmal darf man auch nicht loslassen. Stell dir mal vor, ich hätte dich irgendwann aufgegeben. Dann wären wir jetzt vielleicht gar nicht hier."
„Andererseits musste da auch ein bisschen was von meiner Seite kommen", wandte ich mit hochgezogenen Augenbrauen ein.
James grinste mich schelmisch an. „Nein, du musstest nichts machen, du bist einfach irgendwann meinem Charme unterlegen."
Ich lachte ein bisschen. „Tja, ich fürchte mit Charme komme ich bei Petunia nicht weit. Da muss ich eher Vernons Grunzen imitieren können."
Augenblicklich wurde James ernst. „Ich hoffe, es ist nicht meine Schuld, dass du sie jetzt loslassen willst. Das war nicht meine Absicht. Es tut mir leid, dass ich das Treffen kaputtgemacht habe."
„Hast du nicht. Oder zumindest nicht du allein."
Bevor James noch etwas sagen konnte, rollte ich mich zu ihm herum und schlang die Arme um ihn.
„Ich werde Tunia vermissen", nuschelte ich an seinen Hals. „Ist das seltsam?"
James erwiderte meine Umarmung ganz fest.
„Nein. Ich habe zwar keinen richtigen Bruder ... Aber ich vermisse Sirius gerade auch wirklich sehr."
„Du bist so ein Idiot", flüsterte ich mit geschlossenen Augen.
Ich spürte, wie James' Brust vibrierte, als er leise lachte. Mit einem kleinen Kuss auf meine Schläfe erwiderte er: „Ich weiß. Aber dafür liebst du mich ja so."
„Stimmt... Ich liebe dich", murmelte ich.
James entspannte sich merklich.
„Ich dich auch, Krümel."

Die Regel - Lily& James Ff ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt