Kapitel 101

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„Und? Und? Wie findest du es?" James sprang wie ein kleines Kind freudig auf und ab.
Sein Blick löste sich dabei keine Sekunde von mir.
Er konnte meine Reaktion kaum erwarten, doch ich verstand nicht so ganz, was ich hier sehen sollte.

James hatte mich aus der Winkelgasse herausgeführt, und dahinter gab es buchstäblich nichts: Man sah lediglich eine weiße Schneedecke mit einigen Hügeln, bis zum Horizont.
Ich fühlte mich ein bisschen wie mitten auf dem Ozean, mit dem Unterschied, dass man dort völlig von blauem Wasser umgeben war und sonst nichts anderes sah.
Zweifellos war der Schnee wunderschön anzuschauen, wie er in der Sonne, die sich mühsam aus der dicken Wolkendecke gekämpft hatte, in unsere Richtung glitzerte.
Allerdings fehlten da ein paar Bäume oder verschneite Häuschen, um ein wirklich schönes Landschaftsbild erzeugen zu können.

„Ähm ... Tut mir leid, Schatz, aber ich sehe wirklich nur weiß", antwortete ich zögernd, als ich merkte, wie James langsam ungeduldig wurde.
„Eben! Ist das nicht wundervoll? Hast du jemals so schönen, unberührten Schnee gesehen?"
„Ja. Ich war mal mit meinen Eltern Ski fahren und bin in eine Schneewehe abgerutscht. Ich habe panische Angst bekommen und-"

James schnitt mir das Wort ab, indem er mir eine behandschuhte Hand auf dem Mund drückte.
„Lils, schieb ein Mal dein Misstrauen beiseite. Ich weiß, du bist nach dem gestrigen Tag nicht in bester Stimmung, aber das ist sogar für dich zu viel Pessimismus."
Seine enttäuschten, großen braunen Augen gaben mir sofort das Gefühl, schuldig zu sein, und ich wollte ihn augenblicklich in die Arme nehmen und ihm versichern, wie sehr ich auf Schneewüsten stand.
Stattdessen straffte ich meine Schultern, zog seine Hand aus meinem Gesicht und sagte so fröhlich ich konnte: „Okay, dann bauen wir mal einen Schneemann."
Falls James sich an dem etwas gezwungenen Tonfall in meiner Stimme störte, ließ er sich nicht anmerken.
Er tat einfach, als wäre nichts gewesen, und grinste verschmitzt.
Mir fiel auf, dass das eine der Eigenschaften war, die ich so gerne an ihm mochte.
Er sprach unangenehme Situation zwar an oder sagte, wenn ihm etwas nicht gefiel, aber wenn er merkte, dass man sich bemühte, es besser zu machen, hackte er nicht länger darauf herum.

So wie jetzt, als er verkündete:
„Einen Schneemann? Oh nein, Schätzchen, das ist was für Anfänger. Wir benutzen die Schneebälle lieber für eine Schneeballschlacht!"
Bei Merlin, bitte nicht.
Meine Erfahrungen mit Schneeballschlachten waren an einer Hand abzuzählen, und das mit gutem Grund: Ich mied sie, soweit ich das konnte, denn ich war keine begnadete Werferin.
Die einzige sportliche Aktivität, die ich sehr gut beherrschte, war weglaufen.
Und das war auch meine einzige Chance, eine Schneeballschlacht zu überleben.
James, dieser Teufel, wusste das ganz genau, aber anscheinend machte es ihm einfach Spaß, mich immer wieder zu demütigen.
Das war dann wohl eine Eigenschaft an ihm, die ich nicht gerne mochte.
Da konnte mir das Sprichwort „Was sich liebt, das neckt sich" echt gestohlen bleiben.

„Jaaaames", begann ich sofort zu jammern, doch wie zu erwarten ließ mich mein sogenannter Freund nicht ausreden.
„Pschscht! Nicht jammern, Kugeln formen! Jeder hat 15 Minuten, um einen Schutzwall zu errichten und so viel Munition wie möglich zu beschaffen! Auf geht's!"
Und schon hatte er sich in die weiße Masse gestürzt und schaufelte sich einen Weg durch den Schnee, wobei er ein wenig aussah wie eine Kugel aus Kleidungsstücken, die durch die Gegend kullerte.

„Wo ist Sirius, wenn man ihn braucht", knurrte ich missgelaunt vor mich hin.
Ich konnte nicht widerstehen, der sich herumwälzenden Kugel alias James Potter laut hinterherzurufen: „Das ist deine Vorstellung von einem romantischen Date, Potter? Und du wunderst dich, dass ich nie mit dir ausgehen wollte!"
Leider bewirkten meine Worte nicht, dass James einen Rückzieher machte, eher im Gegenteil. Durch den Schnee gedämpft hörte ich ein gespenstisches Kichern.
„Idiot", grummelte ich, fing dann aber doch lieber an, eine Mauer aus Schnee zu errichten.
Wenn ich schon keine andere Wahl hatte, würde ich mit Stolz und Stil untergehen.
Dass ich untergehen würde, bezweifelte ich kein Stück.
James als Quidditchspieler war mir an Wurfkraft und Zielgenauigkeit noch mehr überlegen als Normalsterbliche, und das sollte schon etwas heißen.

Mal abgesehen davon, dass sogar meine superdicke Winterausrüstung bereits nach ein paar Minuten Herumgekrieche im Schnee durchnässt war, fing die Sache irgendwann an, mir tatsächlich Spaß zu machen.
Das unermüdliche Formen von Schneebällen lenkte mich von allen negativen Restgedanken an gestern ab, und die frische Luft und das helle Licht gaben mir das Gefühl, neugeboren zu sein.
Ich sog tief die kalte, reine Winterluft in mich ein und streckte mich kurz der Länge nach aus, um kichernd einen Schneeengel zu machen.

Platsch!
Eine matschige, eiskalte Masse landete treffsicher mitten in meinem Gesicht.
Das Kichern verging mir sofort.
„James Potter!", schrie ich wütend, doch dadurch, dass ich auch im Mund Schnee hatte, klang es eher wie: „Mwams Pottr!"

„Fünfzehn Minuten sind rum!", flötete der Übeltäter, gute 20 Meter von mir entfernt.
Und schon prasselten die nächsten Kugeln auf mich ein.
Schnaufend rollte ich mich auf den Bauch, um wenigstens nicht mehr im Gesicht getroffen zu werden.
Mein ganzer Körper wurde von einer Gänsehaut überzogen, als eiskaltes Wasser in meinen Nacken und den Rücken hinunterlief.
Mein hitziges Temperament flammte auf.
Wutschnaubend robbte ich durch den Schnee, bis ich hinter meinem provisorisch errichteten Schneewall wenigstens etwas Schutz erlangte (Die Laufbahn als Architektin konnte ich jedenfalls als mögliche Karriere von meiner Liste streichen. Nicht, dass ich jemals besonders lange darüber nachgedacht hatte).
„Ich mach dich fertig!", rief ich, zuversichtlicher als ich im Grunde war, in die Richtung, aus der die Schneebälle kamen.
Wieder bekam ich nur ein gruseliges Kichern zur Antwort.
„Jungs sollten nicht kichern", beschloss ich für mich.
Beflügelt von dieser Feststellung eröffnete ich mein eigenes Feuer.

Um niemanden etwas vorzumachen: Mein Feuer war kläglich und es bestand nur aus etwa zehn unförmigen Schneekugeln, die alle auf halber Strecke zu James dumpf auf der Schneedecke aufkamen.
Dafür hielt mein Schneewall erstaunlich gut den rund siebzig Schneebällen stand, die von James zu mir herübergeschossen wurden.
Am Ende stand sogar noch eine kleine Ecke, hinter die ich mich bis zum Schluss kauerte.
James' Festung hatte nicht mal einen Kratzer abbekommen.

„Ich würde sagen, Unentschieden", keuchte ich, als James schließlich zu mir gestapft kam, um mich aus der Schneedecke zu ziehen, in die ich langsam eingesunken war.
Zur Antwort bekam er einen Lachanfall.
„Du hast überall Schnee", teilte er mir überflüssigerweise mit, und konnte gar nicht mehr aufhören, sich vor Lachen durch den Schnee zu kugeln.
„Du auch, wenn du dich nicht bald beruhigst", erwiderte ich trocken, wobei ich mir die Mütze vom Kopf zog und das Schneewasser auswrang.

Nach ein paar Minuten hatte James sich soweit erholt, dass er mir wieder in mein zweifellos knallrotes Gesicht schauen konnte, ohne sofort wieder einen Lachkrampf zu bekommen.
Er schmunzelte zwar immer noch leicht in sich hinein, war jetzt aber bereit, wieder einen vernünftigen Satz herauszubringen.
„Okay, jetzt können wir dahingehen, wo ich eigentlich mit dir hinwollte."

Verdutzt starrte ich ihn an.
Wie?! Das war noch gar nicht das Date?"
Oh Merlin, was würde ich noch mitmachen müssen, bis wir endlich wieder nach Hause gehen würden?
James sah ehrlich entrüstet aus.
„Also, Krümel, ich bitte dich. Hast du wirklich gedacht, ich wäre so unromantisch, dass ich meine Freundin einfach nur bei einer Schneeballschlacht fertig mache und dann wieder mit ihr nach Hause gehe?"
„Ja", sagte ich schwach. „Zumindest hatte ich gehofft, dass eine Schneeballschlacht reichen würde, bis wir endlich wieder gehen könnten."
James schmunzelte und wuschelte mir durch mein völlig durchnässtes Haar.
„Kein Sorge, unser nächster Halt wird dir sicher gefallen. Und es ist gar nicht weit von hier."
„Nicht weit von hier? Aber James, wir sind mitten in der Pampa", jammerte ich.
„Nur weil du etwas nicht sehen kannst, heißt es nicht, dass es nicht da ist", erklärte James mir weise. „Na, komm schon, es wird dir gefallen, versprochen. Wo ist denn unsere Reisetasche abgeblieben?"
Suchend sah James sich um, konnte wohl aber weit und breit nur Weiß entdecken.
Ich wies schwach auf den letzten Überrest meiner Schneemauer.
„Da drunter."
„Ach, deswegen hat dieser Teil überlebt!"
„Ha, ha..."

Die Regel - Lily& James Ff ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt