Kapitel 64

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In dieser Nacht schlief ich nicht gut.
Der düstere Blick aus Mulcibers fast schwarzen Augen verfolgte mich bis in meine Träume, und obwohl ich zurück in unserer Wohnung gleich nochmal geduscht hatte, glaubte ich immer noch, seine Berührungen auf mir zu spüren.
Als ich am nächsten Morgen aus meinem Zimmer schlich, fühlte ich mich wie gerädert.
Wahrscheinlich war das auch der Grund, warum ich geradewegs in James hineinlief und dann beinahe umgekippt wäre, hätte er mich nicht gehalten.
„Wow, Lily, nicht so stürmisch", lachte er, als er mich wieder auf meine eigenen Füße stellte.
Er lächelte mich an, doch als ich seinen Blick müde erwiderte, verschwand der gut gelaunte Ausdruck langsam von seinem Gesicht.
„Was ist passiert?", fragte er augenblicklich.
Ich schüttelte nur den Kopf. James war wirklich der letzte, mit dem ich über meine schrecklichen Erlebnisse sprechen wollte.
Eigentlich wollte ich gar nicht darüber sprechen.
„Lily, bitte. Ist es wegen deinen Eltern?"
Oh, super, er lieferte mir die Ausrede gleich.
„Ja. Ich möchte aber nicht darüber reden. Tut mir leid."
Ich wollte es nicht, aber sein Griff um meine Oberarme fühlte sich gerade nicht gut an. Es erinnerte mich zu sehr an Avery, der mich packen wollte.
Als hätte James meine Gedanken gelesen, ließ er mich los, aber nur, um vorsichtig mein Kinn mit seiner Hand anzuheben.
Ich erwiderte seinen besorgten Blick.
Meine Handflächen begannen zu schwitzen. Seine warmen braunen Augen hinter der Brill waren so viel schöner als Mulcibers.
Zu schön.
Ich musste hier weg, bevor mich die Gefühle übermannten.
„Wenn ich dir irgendwie helfen kann, lass es mich wissen, okay?", sagte James leise.
Verdammt, mir kamen die Tränen.
Er machte sich Sorgen um mich. Vielleicht hatte Holly ja doch unrecht...
Mir wurde ganz warm bei dem Gedanken und ich nickte lächelnd.
James atmete erleichtert aus. „Gut", fuhr er fort, „du bist mir nämlich eine echt gute Freundin geworden. Und ich bin echt froh, dass wir Freunde sein können und uns nicht mehr hassen."
Und schon war meine Hoffnung wieder wie weggeblasen.
Freunde. Ihm gefiel es, dass wir Freunde sein konnten.
Himmel, warum überraschte mich das überhaupt noch?
Ich hatte meine Chance selbst verspielt. Ich war selbst schuld.
Irgendwie brachte ich ein klägliches Lächeln zustande. „Ja", presste ich hervor. „Ich auch."
So schnell wie möglich verzog ich mich ins Badezimmer und lehnte mich mit geschlossenen Augen an die Tür.
Ich musste James Potter dringend wieder aus meinem Kopf bekommen, bevor er sich noch in mein Herz einnistete.
Hoffentlich war es dazu noch nicht zu spät ... denn er hatte mich offiziell in die Friendzone geschoben.

„Whoa, du bist ja immer noch nicht besser drauf."
Marlene stupste mich an.
Wir befanden uns in unserer letzten Unterrichtsstunde für heute, Zauberkunst bei dem kleinen Professer Flitwick.
Eigentlich mein Lieblingsfach. Ich hatte auch erwartet, dass meine Laune sich dort bessern würde, aber irgendwie war dem nicht so.
Was ganz vielleicht daran lag, dass wir dieses Fach mit den Hufflepuffs hatten.
Und Holly hatte es sich nicht nehmen lassen, neben James Platz zu nehmen.
Dabei hatte sie dort seit der sechsten Klasse nicht mehr gesessen.
Mir war klar, dass sie das nur machte, um mich zu triezen. Die Art, wie sie am Anfang der Stunde ihr Haar zurecht geschüttelt und dabei einen Blick über ihre Schulter zu mir geworfen hatte, hatte Bände gesprochen.
Ihr blödes, überhebliches Grinsen wollte mir einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen.
Dummerweise erreichte sie ihr Ziel.
Ich ärgerte mich schwarz.
James hatte zwar ein wenig überrascht ausgesehen, war aber nicht abgeneigt gewesen, den Platz für sie freizumachen.
Das Messer der Eifersucht hatte mir einige Stiche direkt in die Brust versetzt, was mich nur noch wütender machte.
Marlene holte mich aus meinen düsteren Gedanken zurück.
„Ist das irgendein Experiment? Versuchst du, deine Mundwinkel so weit wie möglich nach unten zu dehnen, damit du den Mund dann weiter öffnen und noch mehr Essen hineinschieben kannst?"
Sie nahm beide Zeigefinger und drückte damit ihre eigenen Mundwinkel nach unten.
„Vielleicht ist das keine schlechte Idee."
Ich schnaubte. „Nee, Marlene, ich kann auch so genug essen, vielen Dank auch."
Ein kleines Grinsen erschien auf ihren Lippen.
„Man kann nie genug essen. Und du schonmal gar nicht, so dünn wie du geworden bist. Weißt du, was ich glaube?"
Ich stöhnte. Was kam jetzt wieder?
„Was glaubst du?", fragte ich dennoch, etwas angenervt.
„Dir fehlt Bewegung und frische Luft. Du hockst nur noch drinnen rum und un versteckst dich in deinem Kopf. Es ist ja okay, wenn du nicht drüber reden willst, aber dann grübel auch nicht die ganze Zeit." Marlene stoppte kurz und überlegte.
Dann schlug sie vor: „Lass uns doch mal wieder Joggen gehen."
Mir graute es bei der Vorstellung, wie ich der sportlichen Quidditchspielerin hinterherhechelte. Ich war keine schlechte Läuferin, aber meine Kondition hatte in den letzten Wochen beträchtlich gelitten.
Andererseits ... bei dem, was gestern passiert war, sollte ich mich im Wegrennen etwas üben.
„Na gut", stimmte ich Marlenes Idee also halbherzig zu. „Aber nimm mich bitte nicht zu hart ran."
„Mach ich doch nie", grinste sie.
Ich zog skeptisch die Augenbrauen hoch.

Nachdem wir zwei Runden um den See gelaufen waren, bereute ich es, Marlene begleitet zu haben.
Nicht, weil es keinen Spaß gemacht hatte, sondern weil wir auf unserem Weg am Quidditchfeld vorbeikamen. Die Slytherins waren am Trainieren und ich erkannte nur unschwer Mulcibers breiten Körperbau.
Ein mulmiges Gefühl breitete sich in meiner Magengegend aus und ich bat Marlene, die Laufrunde zu beenden. Sie folgte meinem Blick und runzelte die Stirn.
„Lily, nur weil sie dich Schlammblut nennen, heißt das noch lange nicht, dass du eins bist. Die haben doch keine Ahnung von dir."
Vielleicht hatte Mulciber keine Ahnung von mir, aber er hatte eine Ahnung, wie sich mein Bauch anfühlte.
Und das machte mir ziemlich zu schaffen.
„Bitte, Marls. Wir können ja wann anders nochmal laufen gehen. Lass es uns langsam angehen. Außerdem ist es eiskalt."
Das überzeugte sie, als bogen wir ab und joggten in Richtung Schloss.
Erst, als die schwere Eingangstür hinter uns ins Schloss gefallen war, konnte ich wieder aufatmen.


Die Regel - Lily& James Ff ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt