Kapitel 43

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Ich wurde von schrecklichem Lärm geweckt.
Hämmern, Stimmengewirr, Gläserklirren, Kreischen, Jubeln, Fußgetrappel, laute Musik, Rufe.
Alles, was ich gerade nicht gebrauchen konnte.
Bei Merlin, was war ich eigentlich für ein jämmerlicher Mensch geworden.
Schon wieder hatte ich einen ganzen Tag nur im Bett gelegen und die Decke angestarrt, oder den Brief, oder geschlafen.
Inzwischen war es draußen wieder dunkel. Ich fuchtelte ein bisschen mit meinem Zauberstab, bis Licht aufkam.
Dem Himmel sei Dank, dass ich bereits ein paar Zaubersprüche ohne die Lippen bewegen zu müssen ausführen konnte.
Ich blinzelte in die plötzliche Helligkeit und warf einen Blick auf meinen Terminkalender. Hatte ich es mir doch gedacht.
Der zweite November, Sirius' Geburtstag stand an. Natürlich mussten sie eine Party schmeißen, vermutlich wurde wieder reingefeiert.
Aber warum denn hier?
Ich war mir ziemlich sicher, dass James dagegen protestiert haben musste, aber nun ja. Einen ganzen Sirius-Black-Fanclub konnte man wohl nicht aufhalten.
Ich stöhnte resigniert.
Danke Gesellschaft, für all diese furchtbaren Teenager die nur eine Tür entfernt von mir jetzt schwitzend durch meine Wohnung sprangen und wer weiß was anstellten.
Juhu.
Ich wünschte mir, dass jemand Sirius in den Becher kotzte.
Mir war nicht nach feiern.
Wie konnte denn überhaupt irgendwer feiern? Da draußen herrschte Krieg. Sogar in den Schlossmauern spürte man Feindseligkeiten, zwischen den verschiedenen Häusern, aber auch zwischen Lehrern.
Dumbledore hatte alles einigermaßen unter Kontrolle, aber bald würden wir die Schule verlassen und uns dem harten Kampf hinter unseren sicheren Mauern stellen müssen.
Nun, wenigstens hatte ich keine Familie mehr, die ich verlieren konnte.
Ich dachte an Petunia. Sie hatte ich wohl schon lange verloren.
Ich lachte humorlos. Wie scheiße doch gerade alles lief.
Und nun musste ich auch noch aufs Klo.
Jackpot, Leben, danke dafür. Alles in mir sträubte sich gegen die Vorstellung, mich durch die feiernde Masse quälen zu müssen.
Ich spielte mit dem Gedanken, mein Fenster zu öffnen ... oder vielleicht ein Becher...?
Nein, das war einfach zu eklig.
„Beschissener kanns sowieso nicht mehr werden", murmelte ich, und stemmte mich aus dem Bett. Mit schlurfenden Schritten kroch ich auf die Zimmertür zu.
Den Blick in den Spiegel wagte ich nicht – ich konnte mir denken, wie ich aussah, wenn ich tagelang weder geduscht, noch Haare gekämmt, noch gegessen, noch Zähne geputzt hatte, und dafür nur geheult.
Vorsichtig schob ich die Tür einen Spalt weit auf. Der Lärmpegel stieg sofort um das Tausendfache. Ich konnte nichts sehen, da einige wackelnde Hinterteile mir die Sicht versperrten.
Manchmal hasste ich es wirklich, klein zu sein.
Na gut. Ich sehe nichts, also sieht mich auch keiner, dachte ich bei mir, und quetschte mich langsam durch den Türspalt.
Bevor irgendwer in mein Zimmer eindringen konnte – mein Bett musste sehr einladend für knutschende Pärchen wirken- schloss ich die Tür schnell wieder und duckte mich unter einigen Ellbogen hindurch.
Die Musik war so laut, dass der Boden vibrierte und ich den Bass in meiner Brust wummern spürte. Mein Kopf begann unangenehm zu pochen – ich war nur noch an Stille gewöhnt, und nun drohten meine Trommelfelle zu zerreißen.
Ganz zu schweigen von diesem Geruch.
Ich wollte nicht abstreiten, dass mein eigener Körpergeruch gerade schrecklich war, aber das hier war die Hölle.
Die andere Lily hätte sofort alle Fenster aufgerissen und einige knutschende Pärchen dabei ordentlich angeherrscht.
Dieser Lily hier war alles egal, nur nicht die Toilette.
Es war die pure Qual, sich einen Weg durch die wogende Menge bahnen zu müssen. Die ganze Zeit musste ich mich unter Armen wegducken, deren Besitzer laut grölend Becher rumschwenkten, deren Inhalt ich gar nicht kennen wollte.
Meine Knie wollten unter der Last zusammenbrechen. Ich war einfach nur erschöpft und ausgelaugt und begann bei der Hitze hier drinnen quasi sofort zu schwitzen.
Der Raum drehte sich.
Verzweifelt schaute ich mich um. Wo war nur James?
Oder irgendwer. Konnte mir nicht jemand helfen?
Jemand rammte mir einen Ellbogen in die Magengrube. Ich gab ein furchtbares Geräusch von mir und krümmte mich zusammen – Stehenbleiben war keine gute Idee gewesen.
„Oh, scheiße, dasut mir aba – Evans?!"
Der Missetäter beugte sich zu mir herunter. Seine Whiskey-Fahne schlug mir entgegen. Hätte ich etwas im Magen gehabt, hätte ich mich spätestens jetzt übergeben.
„Was is'n mit dir passiert?" Er war definitiv seeehr betrunken.
Dein verdammter Ellbogen war gerade in meinem Bauch, das ist passiert, du Arsch.
Ich würgte nur zur Antwort.
„Mann, du siehs aba echt scheiße aus. Geh ma lieba ins Bad und kotz da oda so", nuschelte der Typ, ein bisschen zu nahe an meinem Ohr.
Danke, danke. Wie sehr ich meine Mitmenschen doch liebte.
„Oda, noch bessa, drink was von'm Zeug hier... is echt gut!"
Er bot mir seinen Becher an – randvoll mit einer dicken, dunklen Flüssigkeit, die stark nach Gehirnzellenabtötung roch.
Ich schaute nach oben. In der Dunkelheit konnte ich schemenhaft sein grinsendes Gesicht ausmachen – ich kannte ihn, einer der Typen, die sich für den Posten des Treibers beworben hatten.
Vielleicht sogar der, der Schuld an James' und meinem Sturz war.
Aber genau sagen konnte und wollte ich es nicht.
„Nein, danke", presste ich hervor. Ich wollte hier einfach nur noch weg, sonst würde meine Faust gleich in seinem dreckigen Gesicht landen – oder schlimmer noch, ich würde wieder anfangen zu heulen.
So langsam fühlte ich mich wie ein Springbrunnen.
Ein sehr empfindlicher Springbrunnen.
„Ach komm, Evans, mach dich ma' locka", meinte der Kerl schwammig und hielt mir wieder den Becher direkt unter die Nase.
Der Inhalt schwankte bedrohlich, als könnte er es kaum erwarten, auf meine Füße zu platschen.
„Ich sagte nein", murmelte ich. Mir war heiß und kalt gleichzeitig. Schweißtropfen standen auf meiner Stirn.
Diese Lautstärke, diese vielen Menschen auf viel zu kleinem Raum, das machte mich wahnsinnig. Ich stand kurz vor einem hysterischen Anfall.
Ich versuchte mit letzter Kraft, mich an dem Gryffindor vorbeizudrücken, doch er war ein absoluter Schrank. Genauso gut hätte ich gegen eine Wand laufen können.
„Na los, hab dich ma' net so", grölte er und drückte mir einfach den Becher in die Hand. Ich starrte erst ihn, dann das Getränk völlig überfordert an.
Ein aufmunterndes Grinsen seinerseits.
Mein Kopf schmerzte.
Mein Herz klopfte viel zu schnell – es tat weh.
Dieser Becher würde vermutlich schon reichen, um mein Gehirn wegzupusten.
Dann würdest du alles vergessen, flüsterte Teufelchen in mir. Einfach mal den Schmerz loslassen ... wäre das nicht schön?
Tu's nicht, Lily, es bringt nichts, davonzulaufen, meinte ein anderes Stimmchen. Doch es war zu leise und meine Nerven zu schwach, mein Herz zu schwer.
Ich hob nochmal den Blick.
Der Kerl nickte zustimmend und prostete mir zu – keine Ahnung, wo er so schnell Nachschub herbekommen hatte.
Ich roch an der Flüssigkeit.
Vielleicht doch nicht so schlecht.
Dann kippte ich den Inhalt einfach runter.

Die Regel - Lily& James Ff ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt