Ist euch schonmal aufgefallen, wie schnell sich das Leben etwas anders überlegt?
Wie plötzlich es seine Meinung ändert?
Ihr lebt normal vor euch hin, geht eurem Alltag nach, seid fröhlich oder mal weniger fröhlich und ab und zu ein wenig traurig oder ihr vermisst jemanden oder habt Hunger.
Und dann denkt sich das Schicksal: „Nein, das ist mir jetzt zu langweilig, jetzt muss was ganz, ganz anderes passieren."
Und auf einmal ist alles anders.
Vielleicht starrt ihr dann wie ich auf ein Stück Papier, ein ganz einfaches, weißes Papier, wie ihr es schon hundert Mal in den Händen hattet. Ihr starrt darauf und lest die schwarz gedruckten Worte, die euch Dinge erzählen, die ihr nicht glauben wollt, die euch sagen, dass es einen Autounfall ab und dass eure Eltern nicht mehr zurückkommen werden und ihr lest das alles, und könnt es nicht glauben.
Der Brief wird beendet, indem man euch tiefes Beileid zuspricht, Beileid von Menschen, die diese Personen, die ihr geliebt habt, nicht kannten und nun auch nie mehr kennenlernen würden.
Vielleicht müsst ihr euch dann wie ich erstmal setzen.
Ich saß noch eine ganze Weile dort auf dem Sofa.
Vor mir der Tisch, auf dem noch ein bisschen Krimskrams lag, und James' Brille.
Er hatte sie vermutlich zum Duschen abgenommen.
Meine Hände zitterten, und die Finger der rechten Hand hielten krampfhaft das Stück Papier umklammert, das schon ganz nass von leisen Tränen war.
Als ob ich das dort Geschriebene vergessen könnte, indem das Salzwasser die Buchstaben verwischte.
Ich starrte auf meine Beine, ohne sie wirklich zu sehen.
Meine Haare fielen mir ins Gesicht, und vermutlich war das besser so, denn ich wollte nicht, dass irgendwer meinen Schmerz sah.
Es gibt Dinge, die muss man für sich behalten, um sie zu würdigen.
Irgendwann lag ich in meinem Bett, die Augen auf die draußen vorherrschende Dunkelheit gerichtet. Zum ersten Mal fühlte ich mich in diesem Zimmer nicht wohl und geborgen, sondern klein und unbedeutend. Der Schmerz, ausgehend von meinem gebrochenen Herzen, füllte mich komplett aus.
In dieser Nacht fand ich lange keinen Schlaf.
„Lily", sagte eine Stimme in der Dunkelheit. „Lily?"
Ich öffnete den Mund und wollte eine Antwort geben. Jedoch biss ich mir sofort auf die Zunge, als ich merkte, dass das Wort, das ich hatte sagen wollen, „Dad?" gewesen war.
Ich presste die Augen zusammen. Mein Herz fühlte sich zum Zerreißen gespannt an, es stolperte in meiner Brust und wollte am liebsten stehenbleiben, ich wollte nicht mehr aufstehen, ich wollte nur noch schlafen und alles vergessen.
Aber zu allererst wollte ich, dass diese Person, die nicht mein Vater war, wieder verschwand und mich mit meinem Schmerz, der wie eine große, schwere Kreatur auf meiner Brust saß, allein ließ.
„Lily, bist du wach?" Eine Hand streifte meine Wange und ich zuckte zusammen.
Nein, schrie alles in mir, nein, bin ich nicht und jetzt geh einfach.
Schritte, die sich entfernten. Ich öffnete meine Augen wieder.
Er ging tatsächlich.
Er ging durch die Tür, die ich vorhin vergessen hatte zu schließen, weil ich blind vor Kummer gewesen war.
Ich wäre erleichtert gewesen, doch das große, schwere Wesen auf meiner Brust ließ keine anderen Gefühle als Angst, Trauer, Wut und Schmerz herein.
Ich bemerkte kaum, dass der ungebetene Gast wieder zurückkam, so sehr war ich in meinem Meer aus Unglücklichsein versunken.
Erst, als der ganze Raum plötzlich von Licht erfüllt wurde, sah ich ihn.
James stand im Türrahmen und starrte mich an.
Ich starrte zurück.
Typisch. Wochenlang hörte man gar nichts von ihm, und dann kam er, wenn man ihn nicht haben wollte.
„Du hast im Schlaf geschrien. Ich bin davon aufgewacht", erklärte er, und es klang wie eine Entschuldigung.
„Tut mir leid", sagte ich monoton. Dann: „Geh wieder schlafen."
James bewegte sich nicht. Ich hätte ungeduldig werden müssen, aber auch das ließ das große, schwere Monster nicht zu. Ich fühlte mich leer und kalt.
„Du hast geweint."
„Ach, wirklich?" Es sollte sarkastisch klingen. Doch es klang eher auf eine grausame Art amüsiert. James zuckte zusammen.
„Lily", flüsterte er, „was ist passiert?"
Und ganz plötzlich lockerte das Monster kurz seinen Griff um meine Brust und ließ ein Gefühl hinaus, das schon die ganze Zeit in mir kochte, und ich wurde laut und wütend und fing an zu schreien.
„Das ist verdammt nochmal passiert!", brüllte ich, sprang aus dem Bett, riss den Brief vom Boden hoch und schleuderte ihn in James' Richtung. „Sie sind tot! Tot, tot, tot! Weil irgendein verdammtes Arschloch meinte, betrunken in sein beschissenes Auto steigen zu müssen! Warum müsst ihr euch auch alle immer betrinken?! Warum?!"
Irgendwie war ich vorgestürmt, und nun stand ich vor James und schubste ihn gegen die Brust, so stark ich konnte, rasend vor Wut und Verzweiflung, bis mein Schreien heiser wurde und meine Schläge kraftloser.
James stand einfach nur da.
Er stand da, sah auf den Brief in seiner Hand und ließ meine Fäuste auf seine Brust niederprasseln.
Wenn ich nicht so sehr mit meiner bodenlosen Wut beschäftigt gewesen wäre, hätte ich vielleicht gesehen, wie er die Augen zusammenkneifen musste, um die Buchstaben ohne Brille entziffern zu können, und wie seine Augenbrauen sich bei jedem Wort weiter zusammenzogen und sein Mund ein erschrockenes „Oh" formte, als er fast am Ende angekommen war.
Doch ich sah James erst wieder durch tränenverschleierte Augen an, als er meine Fäuste packte und meinem Einzelkampf somit ein Ende setzte.
Ich war verstummt, aber die Wut war immer noch nicht aus meinem Blick verschwunden.
„Lily", sagte James ganz ernst und leise und sanft. „Es tut mir so wahnsinnig leid."
Und dann schlang er einfach seine Arme um mich und drückte mein Gesicht ganz fest an seine Brust, auf die ich eben noch eingeschlagen hatte und ich musste heftig anfangen zu weinen, weil mir bewusst wurde, dass mein Vater mich nie wieder so umarmen würde.
Ich weinte und schluchzte und rotzte James T-Shirt voll, bis ich das Gefühl hatte, nicht mehr atmen zu können, ich krallte meine Finger in den weichen Stoff und vergrub mein nasses Gesicht in James' Halsbeuge, und er ließ es einfach geschehen, obwohl es bestimmt schönere Dinge gab, als ein von Rotz und Wasser verschmiertes Gesicht am Hals zu haben.
James hielt mich ganz fest und ließ keine Sekunde los, bis ich irgendwann nicht mehr wütend auf die ganze Welt war, sondern einfach nur noch unendlich unglücklich.
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Die Regel - Lily& James Ff ✔️
FanfictionABGESCHLOSSEN Seit Jahren besteht diese eine Regel: Evans hasst Potter, Potter mag Evans. Wenn es nach Lily Evans, Einserschülerin und absoluter Lehrerliebling, geht, wird diese Regel auch niemals gebrochen werden. Doch da hat sie ihre Rechnung ohne...