Trotz der ganzen Vater- und Hartmann-Katastrophen von Max bin ich nun nach zwei Wochen ziemlich angekommen im neuen Schuljahr. Ich fange an, meine Klassen zu kennen, die Sitzungen werden Routine, die Unterrichtsvorbereitungen gehen glatter von der Hand und auch unser WG-Leben rüttelt sich entlang unserer Stundenpläne wie jedes Jahr neu zurecht. Die Projektwahl lief glatt, das Kollegium nimmt mich für voll – im Großen und Ganzen kann ich echt zufrieden sein mit meinem Leben.
Ich sitze schon am Lehrerpult, als meine Zwölfte nach und nach im Klassenraum für die Sport-Theorie eintrudelt. Ich schaue sie mir nacheinander an. Sie lernen nun seit 1,5 Jahren miteinander, und ich befürchte, ich werde nie wieder in meiner Lehrerinnenlaufbahn einen Kurs haben, in dem alle so miteinander harmonieren, sich tolerieren, sich gegenseitig unterstützen. Ich bin einfach begeistert, wie schnell Lore ihren Platz in der Gruppe gefunden hat. Nur mit Sebastian muss ich mich nochmal näher befassen. Er hält sich zwar sehr zurück seit der klaren Ansage von Moritz, aber er geht auch überhaupt nicht von sich aus auf die anderen zu. Und ich habe den Jungen in den ganzen zwei Wochen nicht einmal lachen sehen.
„Guten Morgen! Schön, dass Sie alle da sind. Ich habe grade eben wieder gedacht, dass Sie einfach ein toller Jahrgang und eine tolle Gemeinschaft sind. Und das wollte ich zum Wochenstart mal loswerden.
Sie haben letzte Woche entschieden, dass Sie mit dem Thema „Leistungssport und Gesundheit" beginnen wollen, und sollten als Hausaufgabe diese Fragestellung auf ihren eigenen Sport beziehen. Ich hätte jetzt gerne, dass Sie noch einmal kurz ihre Hausaufgabe überfliegen, und dann tragen wir doch mal zusammen, wo da die Fallen und die Möglichkeiten sind. Und wie Sie selbst ihren Sport für sich handhaben, damit sie nicht als Wracks mit 30 im Rollstuhl sitzen."Während die Schüler konzentriert lesen, male ich eine Tabelle mit zwei Spalten an die Tafel – Chancen und Risiken. Dann tragen wir die Ergebnisse, Erkenntnisse und Fragen zusammen, die beim Erledigen der Hausaufgaben entstanden sind. Bei manchen offenbaren sich darin ihre Zukunftsängste, bei anderen spürt man, dass sie eigentlich noch gar nicht wissen, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen. Und zu meinem großen Erstaunen endet das Gespräch mit einer zutiefst moralischen Frage. Denn auf einmal landen sie bei Doping und anderen Möglichkeiten, Sportergebnisse zu manipulieren. Und bei der Frage, wieviel man bereit ist, dranzugeben, um zu siegen.
Sebastian sagt kein einziges Wort. Aber seine Mimik wechselt ununterbrochen zwischen ganz verschiedenen Gefühlen hin und her. Das lässt mich ahnen, dass er ein Getriebener ist, der all diese Fragen und ganz besonders die letzte, quälend in sich hin und her schiebt und irgendeinem Zwang unterworfen ist, der ihm überhaupt nicht gut tut.
Da fasse ich einen ungewöhnlichen und sehr spontanen Entschluss. Ja, ich sollte genug Abstand zu meinem Job haben und das schön von meinem Privatleben weghalten. Und ich kann nicht im Alleingang die Welt retten. Aber ich kann entweder stumpf meinen Job durchziehen – oder genauer hinschauen, dabei ganz viel lernen und vieles gut machen, was ich sonst übersehen würde.
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Was sich neckt, das hasst sich
General FictionÄhhh - heißt das nicht eigentlich: "... das liebt sich" ??? Eigentlich ... Aber nicht, wenn ein notorischer Mathemuffel mit Hang zum verbalen Kahlschlag kurz vorm Abitur auf eine Lehrerin trifft, die mit Liebe zur Mathematik und einer ausgesprochen...