Ich hab heute Mittag nochmal mit Tanja gesprochen. Mir geht einfach nicht aus dem Kopf, dass meine Probleme ununterbrochen wie riesige Felsklötze mitten in dieser Ehe aufschlagen. Ich will das nicht. Und dafür darf ich mich nicht mehr hinter Tanja verstecken. Ich muss meinen Kampf mit Papa selbst kämpfen. Ich hab Tanja gesagt, dass ich selbst Papa von dem letzten Vorfall erzählen werde, und auch, dass Thorsten nochmal in Aktion treten will. Wie er darauf reagiert, werde ich sehen. Davon beirren lassen werde ich mich nicht mehr. Dazu stehen viel zu viele Menschen fest hinter mir. Ein Risiko, dass ich schlafende Hunde wecke, ist es trotzdem.
Nach dem Mittagessen habe ich mich auf meine „Lerngruppe Max" konzentriert und mal die wichtigen Themen auf die Termine verteilt, damit ich das den anderen nachher geben kann. Bio und Erdkunde für morgen war nicht viel, und darum kann ich sogar noch 6 ½ Minuten chillen, bevor die anderen bei mir eintrudeln. Als erstes stellen sie sich natürlich an meine Zimmertür und lesen sich meine Bucket List-Karten durch. Eine bunte Mischung aus „Au jaaa!" und „Och nööööö!" erklingt, und ich lache mich nur schief über die beiden. Auf einmal dreht Moritz sich um und strahlt mich an.
„Hei! Ist dir eigentlich bewusst, wieviel du wieder lachst? Vor zwei Wochen hab ich echt gedacht, ich seh dich erst wieder im nächsten Juni lachen."
Tja – was soll ich dazu sagen. Ich auch?Zur Einführung in die Literaturgeschichte habe ich mir was Witziges ausgedacht. Ich habe einen laaangen Zeitstrahl an meine Wand gepappt, von 600 n.Chr. Bis heute. Darunter habe ich die für Deutschland entscheidenden weltgeschichtlichen Ereignisse, politischen Umbrüche und einflussreichen Persönlichkeiten eingetragen. Darüber zeichne ich nun die Literaturepochen ein, während ich davon erzähle und sie in Beziehung zu den historischen Ereignissen und wechselnden Weltanschauungen setze. Welche Gattungen wurden in welcher Epoche bevorzugt, welche Dichter haben diese Epoche maßgeblich geprägt?
Dann setze ich an den entsprechenden Stellen die konkrete Literatur ein, die wir tatsächlich gelesen haben und in diesem Schuljahr noch lesen werden. So können wir auf einen Blick sehen, wann und wo wir uns getummelt haben in den drei Jahren Oberstufe.
„Ich hab diesen Zeitstrahl auch vollständig ausgefüllt für euch ausgedruckt und zusammengebastelt, damit ihr immer wieder nachsehen könnt, wo wir grade sind. Toll ist, dass wir in meinem LK und eurem GK nahezu die gleiche Literatur gelesen haben, so muss ich fast nichts Neues lesen. Wir sind im LK einfach zum Teil mehr in die Tiefe gegangen oder haben noch ein, zwei Sachen mehr gelesen."„Mir war nie vorher so bewusst, WIE sehr Geschichte, Politik, Literatur, Religion, Kunst und Weltbild miteinander verwoben sind. Aber so auf deinem Zeitstrahl sieht das völlig klar aus. Im Absolutismus entsteht natürlich andere Literatur als bei einem fahrenden Minnesänger oder einem Nachkriegsphilosophen."
„Genau, Paul. Es ist einfach ein Unterschied, ob ich ein Theaterstück schreibe unter einem Diktator oder in einer Demokratie. Heute gibt es Kabarett ganz offen im Fernsehen, und da fliegen die Fetzen. Vor achtzig Jahren wäre man für weit weniger im KZ gelandet. Als mir der Zusammenhang klar geworden ist, habe ich mich immer als erstes kurz mit dem Autor und seiner Zeit beschäftigt, bevor ich die Lektüre gelesen habe. Wenn wir einfach loslesen – egal, ob die Bravo oder den Faust – dann lesen wir das mit unserem heutigen Weltbild, unserem heutigen Wissen und unserem ganz persönlichen Filter. Und dann kommt oft ein 'versteh ich nicht' oder ein 'aber warum?' hinterher raus. Natürlich dürfen und müssen wir Literatur am Ende auch auf unsere Zeit übertragen und uns fragen, was das für heute bedeutet. Aber dazu müssen wir erstmal das Damals zumindest verstanden haben."
Ich stocke einen Moment, weil mir spontan noch was einfällt.
„Ach, und da du kein Erdkunde hast, sag ich einfach noch was dazu ... auch die Geologie eines Landes, das Klima, die Bodenschätze oder auch nicht – all das prägt eine Gesellschaft, die wirtschaftlichen Möglichkeiten eines Landes und damit auch die Literatur."
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Was sich neckt, das hasst sich
General FictionÄhhh - heißt das nicht eigentlich: "... das liebt sich" ??? Eigentlich ... Aber nicht, wenn ein notorischer Mathemuffel mit Hang zum verbalen Kahlschlag kurz vorm Abitur auf eine Lehrerin trifft, die mit Liebe zur Mathematik und einer ausgesprochen...