Tief Luft holen und rein. Es hilft nichts, da musst Du jetzt durch, diese acht Kinder hier können überhaupt nichts für das Chaos im Hintergrund.
So betrete ich an meinem zweiten Tag meinen Klassenraum an der Helen-Keller-Schule und begrüße meine neuen Schüler. Zwei Sozialassistenten stehen mir zur Seite. Gestern haben wir ein paar Kennenlernspiele gemacht, bei denen wir uns auch ein bisschen bewegen mussten. Dabei konnte ich gleich gut sehen, was mir die eigentliche Klassenlehrerin über die Handycaps der einzelnen Kinder erzählt hatte.
Sie sind echt süß und total willig. Auch heute begrüßen sie mich mit viel Hallo und erzählen alle durcheinander, was sie gestern Nachmittag noch erlebt haben. Ich schnappe mir also einen kleinen Ball, den ich im Schrank finde, und mache ihn zum Quasselball – nur, wer den Ball hat, darf reden. Als der Vormittag rum ist, kann ich alle Namen, und die Kinder haben den Quasselball kapiert.
Eigentlich muss ich jetzt zum Beethoven durchstarten, aber Frau Luckovski bittet mich nochmal zu sich ins Büro. Und sie sieht aus, als wäre ihr peinlich, was sie mir zu sagen hat.
„Frau Süß, ich ... ich weiß, dass das unangenehm ist für Sie. Sie haben diese Doppelbelastung ganz sicher nicht gewollt. Aber ... ich brauche Sie am Freitag in Kunst, weil mir sonst wo anders eine Kraft fehlt. Und ..."
Ich kenne mich so nicht, aber jetzt reißt mir tatsächlich mal der Geduldsfaden.
„Frau Luckovski, es geht hier nicht darum, ob mir etwas unangenehm ist. Ich habe gesagt bekommen, ich möge mich für dieses Schuljahr umorientieren, das habe ich gemacht. Und ich wollte ganz für EINE Klasse da sein. Dr. Miegel hat mir mitgeteilt, falls ich die Q4 nicht weiter unterrichtete, würde er mich gar nicht weglassen. Das grenzt für mich an moderne Sklaverei. Sie beide haben sich auf 15 U-Stunden plus 5 Vorbereitungsstunden, Elterngespräche etcetera geeinigt. Das habe ich geschluckt. Das Argument war, dass man den Abiturienten so kurz vor Schluss keinen Wechsel zumuten kann. Wenn ich aber hier nicht 15 plus 5 sondern 18 plus 10 Stunden arbeite, weil ich auch noch in alle Konferenzen muss, in denen Themen besprochen werden wie der Anbau in fünf Jahren, der mich sowas von überhaupt nicht interessiert, dann steht das so in keinem Vertrag. Wenn ich dann auch noch am Beethoven nicht 8 Stunden plus Vorbereitung sondern 8 Stunden plus Vorbereitung plus Konferenzen plus Vertretungsstunden zu leisten habe, komme ich auf eine Sechzigstundenwoche ohne, dass ich meine eigentliche Arbeit irgendwie fundiert und schülergerecht gemacht hätte. DAS ist sämtlichen Kindern und deren Eltern nicht zumutbar. Ich wollte mich ganz auf diese Schule und diese Kinder einlassen. Aber ich soll offensichtlich nicht. Es ist absolut kontraproduktiv, dass ich meine Zeit im Kunstunterricht verplempern soll, statt diesen oder den anderen Schülern gerecht zu werden."
Luftholen nicht vergessen, Toni!
"Und ich betone: ich möchte gerne diesen UND den anderen Schülern gerecht werden. Hier muss ich mich in ein neues Arbeitsfeld einarbeiten und viel dazulernen. Dort bin ich weiterhin Tutorin, was bedeutet, dass sich dreizehn Abiturienten darauf verlassen, dass ich sie bis zum Abitur betreue und begleite. Sport-LK bedeutet, dass ich eine Prüfung mehr abnehmen muss als alle anderen Fachlehrer. Diese Jugendlichen haben mörderische Stundenpläne, haben jetzt an vier Tagen Nachmittagsunterricht wegen mir, und ab und zu brauchen sie eben auch mal Zeit für ein klärendes Gespräch mit mir. Ich kann natürlich für ein halbes Jahr meine persönlichen Hobbys und Interessen auf Eis legen, was ich schon nicht in Ordnung finde. Aber ich kann diese Jugendlichen nicht auf Eis legen!
Außerdem bitte ich schlicht nur um diese eine Stunde am Freitag, alles andere habe ich ja akzeptiert. Ich werde mich, statt eine spannende neue Berufserfahrung zu machen, ein halbes Jahr lang in Stücke reißen. Was ich angefangen habe, mache ich auch zu Ende. Aber das gilt dann für beide Schulen und für alle Schüler in den beiden Klassen. Und jetzt möchte ich bitte gehen können, denn ich werde in zehn Minuten am Beethoven Gymnasium erwartet, was sowieso nicht zu schaffen ist."
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Was sich neckt, das hasst sich
General FictionÄhhh - heißt das nicht eigentlich: "... das liebt sich" ??? Eigentlich ... Aber nicht, wenn ein notorischer Mathemuffel mit Hang zum verbalen Kahlschlag kurz vorm Abitur auf eine Lehrerin trifft, die mit Liebe zur Mathematik und einer ausgesprochen...