117 ** Spuren der Verwüstung ** Sa. 7.3.2020

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Kaum haben wir uns zum Abendessen hingesetzt, fühle ich mich, als wäre ich einen Marathon gelaufen

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Kaum haben wir uns zum Abendessen hingesetzt, fühle ich mich, als wäre ich einen Marathon gelaufen. Dass das Schreiben eines Briefes dermaßen anstrengend sein kann, weiß ich ja nach über zwei Monaten in der Klinik vom Kopf her schon. Aber wie erschöpft sich das dann körperlich anfühlt, verblüfft mich doch jedesmal wieder.

Nach dem Essen bringt Lasse die Kleinen ins Bett, während wir anderen noch ein bisschen plaudern. Dann gebe ich mir schließlich einen Ruck.
„Jana? Ich ... Ich möchte mich bei dir entschuldigen. Ich weiß – was ich in den dreizehn Jahren seit Maries Tod hier abgezogen habe, ist im Grunde nicht entschuldbar. Du sollst einfach wissen, dass ich das jetzt verstanden habe. Ich habe dich unglaublich damit verletzt, und das tut mir jetzt sehr, sehr leid."
Ich verstumme.
Was soll ich auch sonst noch sagen? Ich kann mich nicht freiquatschen von meiner Schuld. Ich muss Jana überlassen, was sie daraus macht. Und wann. Und ob überhaupt.

Jana hat mich mit großen Augen angeschaut. Misstrauen, Schmerz, Verwirrung und eine Spur Hoffnung und Dankbarkeit wechseln sich ab in ihrer Mimik. Ich lasse ihr Zeit, ihre Gefühle zu sortieren.
Das haben wir alle in der Klinik ganz schnell gelernt: ein Mensch, der nicht sofort antwortet, hat nicht kein Interesse, sondern er nimmt sich die Zeit, richtig zu hören und dann zu fühlen und danach erst zu antworten.
Thorsten greift nach ihrer Hand, die sich um ihr Glas krampft. Es bleibt völlig still im Raum.

„Axel, ... ja, du hast mir damals das Herz zum zweiten Mal rausgerissen. Dass du so einfach verschwunden bist, war schlicht verantwortungslos – gegenüber einfach allen und allem. Aber ..."
Es fällt ihr sichtlich schwer, weiter zu sprechen, und ich habe bereits jetzt das Gefühl, zu verglühen vor Scham.
„... dass uns dadurch einfach so Max zufiel, war meine Rettung. Nach Maries Tod und der Fehlgeburt wollte ich eigentlich nur noch hinterhersterben. Max war es, der mich am Leben gehalten hat. Max und Lasse. Max hat gebraucht, dass ich den Kopf über Wasser behalte. Max hat gebraucht, dass sich jemand seiner Trauer annimmt. Und darum musste ich meine eigene Trauer bewusst durchleben und irgendwann hinter mir lassen. Seitdem war ich eigentlich nur noch wütend auf dich."

Stille.

„Und jetzt grade merke ich, dass das bedeutet, dass ich mit dem Trauern auch noch nicht fertig bin."
Inzwischen heulen wir alle. Und halten uns alle an den Händen.
Ach, Marie. Endlich, endlich können wir gemeinsam trauern, dass du uns genommen wurdest. Du beschenkst uns – heute noch.
Erst nach einer ganzen Weile findet Jana wieder Worte.
„Axel, ich ... gib mir noch etwas Zeit. ... Aber eines kann ich jetzt schon sagen: danke, dass du dich auf den Weg gemacht hast, und danke, dass du diese Bitte um Entschuldigung ausgesprochen hast. Der Rest wird kommen."

Damit steht sie auf und geht in den stillen Garten. Sie läuft durchs Dunkel und umarmt die alte Kastanie. Marie hatte mir mal erzählt, dass sie als Kinder immer, wenn sie bei diesem Onkel zu Besuch waren, mit ihm in diesen alten Garten gegangen sind und dann an dem Baum gemessen haben, ob sie schon gewachsen sind. Sie haben zu zweit versucht, den Baum zu umarmen. Der ist aber ja mitgewachsen, und so mussten sie einiges älter werden, bis sie begriffen haben, dass der Baum leider kein Maßstab ist. Aber er hat immer eine große Bedeutung gehabt für sie. Deshalb sind auch unsere Häuser so, wie sie sind. Oberste Priorität: der Kastanie muss es gut gehen dabei ...

Was sich neckt, das hasst sichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt