Am Samstag Mittag kriege ich eine SMS von Frau Süß, dass sie ein paar Tage nicht da sein wird und ich erst am Freitag wieder zu ihr kommen soll. Ich antworte ihr, dass ich jetzt zu einem Therapeuten gehe, dass sie da auch Thema sein wird, dass das aber der Schweigepflicht unterliegt und uns nicht gefährden kann.
Auch gut. Vielleicht hilft uns ein bisschen Abstand, und ich muss ja eh meine Facharbeit fertig schreiben.
Die beiden Termine werden mir zwar für Mathe fehlen, aber ändern kann ich es nicht.Ich nutze also das Wochenende dazu, meine Facharbeit so weit fertig zu bekommen, dass ich Onkel Uwe am Montag bereits was Brauchbares zur Beurteilung abgeben kann. Am Sonntag lässt Luis mich früher in die Tanzschule rein. Ich gehe in den kleinen Probenraum im Keller, sortiere meine Stichpunkte zu den praxisbezogenen Anteilen meiner Facharbeit, schaue mir nochmal die Handyaufnahme von mir an, die Frau Süß im Sportunterricht gemacht hat, und versuche, aus all dem etwas zu basteln, das am Ende für die praktische Abiturprüfung taugt. Atemübungen fürs Warming Up, Bewusstmachungs- und Achtsamkeitsübungen, Bewegungsfragmente.
Am spannendsten ist natürlich die Frage: wie bringe ich mich oder mein Gegenüber dazu, die Kopfkontrolle über den Körper los und der Seele freie Bahn zu lassen? Seit ich auf das Thema gestoßen bin, beobachte ich mich selbst wie von außen. Und ich habe festgestellt, dass ich selbst da gar nicht so viel tun muss. Denn wenn es wirklich brennt, dann übernimmt die Seele von alleine die Führung.
Egal, ob ich sitze, laufe oder tanze – mein Körper zeigt immer, wie es der Seele geht, ich kann es gar nicht verhindern. Meine Tränen, mein Lachen, meine Bedürfnisse wollen einfach wahrgenommen werden. Je mehr ich meinem Körper und meiner Seele zutraue, dass sie richtig liegen und mich gut führen können, desto stabiler, freier und kreativer kann ich leben und im Alltag bestehen.
Aber wenn ich die Berichte von Therapeuten so anschaue – wenn ein Patient aufgrund seiner Geschichte große Probleme mit seinem eigenen Körper hat. Oder zum Beispiel Angst vor Kontrollverlust hat. Dann ist es extrem schwierig, den Kopf auszuschalten und einfach loszutanzen. Das erfordert dann wahrscheinlich gaaaaanz viel Erfahrung und Fingerspitzengefühl vom Therapeuten, den Patienten aus der Reserve zu locken.Das Wetter ist inzwischen endgültig auf Herbst umgeschlagen, und so muss ich mich schon ziemlich einmummeln, wenn ich Fahrrad fahre. Trotzdem bin ich wild entschlossen, den ganzen Winter bei egal welchem Wetter mit dem Rad unterwegs zu sein, damit ich einen Ausgleich zu dem viel zu vielen Sitzen habe.
Als ich am Montag Morgen bei Onkel Uwe in seinem Praxiszimmer sitze, bin ich mit meinem Thema schon ein gutes Stück weiter – und auch für mich selbst hat sich wieder viel ergeben. Er nimmt sich viel Zeit für mich, wir gehen gemeinsam die Facharbeit durch, er klebt viele kleine Post Its an die Ränder, wo er gerne einhaken möchte. Er wirkt sehr interessiert, und zweimal murmelt er vor sich hin.
"Ich bin in meiner Arbeit viel zu verkopft, wenn ich mir das hier so anschaue."
Und: "Bei dir wäre ich auch gerne Patient."Dann lässt er alles einen Moment sacken, bevor er sich an mich wendet.
„Ich sehe schon, dass du selbst kaum zwischen deiner momentanen persönlichen Geschichte und deiner Facharbeit trennst. Aber du machst das so geschickt, dass es trotzdem sehr sachlich ist. Ich möchte das allerdings für deine eigene Therapie gerne trennen. Hier bist du nicht der Therapeut, du musst nicht gedanklich neben dir selbst stehen und dich von außen beobachten. Bleib bitte ganz bei und in dir. Das heißt, dass wir hier jetzt reden über die Anteile der Arbeit, die dich selbst ausmachen. Wir nutzen das, um weiter für dich zu verarbeiten, was alles passiert ist. Und für die sachliche Richtigkeit lese ich mir das zu Hause durch. Ich komme dann morgen oder spätestens Mittwoch abends zu dir, und wir korrigieren das gemeinsam durch."
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Was sich neckt, das hasst sich
General FictionÄhhh - heißt das nicht eigentlich: "... das liebt sich" ??? Eigentlich ... Aber nicht, wenn ein notorischer Mathemuffel mit Hang zum verbalen Kahlschlag kurz vorm Abitur auf eine Lehrerin trifft, die mit Liebe zur Mathematik und einer ausgesprochen...