Am Donnerstag Vormittag begleite ich Antoine zu diesem Hugo Berg. Wir verabreden, dass ich mich zurückhalte, und dass Antoine schon heute wahllos durch die Sprachen schlittern darf, weil die beiden sich ja kennenlernen sollen. Ich bin einfach da und stehe dem Therapeuten für Rückfragen zur Survivalwoche zur Verfügung. Als er anfangen soll zu erzählen, erstarrt Antoine zu Stein und bringt erstmal kein Wort raus.
Aber dann redet er sich nach und nach frei, noch viel ausführlicher als in der Eifel, und lässt das ganze Elend seiner vergeudeten Kindheit raus. Er hatte am Anfang ein großes Blatt Papier vor sich auf den Tisch bekommen. Und tatsächlich greift er sich immer wieder Stifte, um beim Reden zu kritzeln, eine Szene aufzumalen, seinen Gefühlen Farben zu geben oder einfach, um sich dran festzuhalten. Ein Buntstift zerknackt in seiner Hand, als er von der Gerichtsverhandlung erzählt, bei der seine Eltern frei gesprochen wurden.
Im Laufe der Stunde verbraucht er nach und nach eine halbe TaTü-Box. Irgendwann stellt Hugo Berg einfach den Papierkorb daneben. Wir müssen echt lachen. Aber eigentlich ist das alles nicht zum Lachen ...
Mal reden die beiden Französisch, mal Deutsch, meistens streuen sie nur französische Fachwörter ins Deutsche rein. Dann reden die beiden darüber, warum er jetzt in Deutschland ist, wie es ihm als Quereinsteiger ins deutsche Schulsystem geht, ob er schon Freunde hat, warum er sich zur Therapie entschlossen hat.
Jetzt kommt auch die Survivalwoche zur Sprache. Er schildert sowohl die Begebenheit im Bach als auch seine autoaggressive Panikattacke beim Anblick der kaputten Übungsbrücke. Er erklärt seinen „Rettermodus". Dann bin ich dran und erzähle, wie ich Antoine kennengelernt habe, wie ich meinem Impuls, ihm zu helfen, gefolgt bin, wie ich ihn aus der Dusche geholt und ihn von da an unterstützt habe. Von dem Abend auf der Hollywoodschaukel.
Gemeinsam spüren wir dem nach, wie sich sein Verhalten und seine Möglichkeiten verändert haben während der Wanderung. Dass er mich berühren konnte. Dann kommt nochmal die Bachdurchquerung mit Bernd auf dem Rücken zur Sprache. Ich kriege wieder Gänsehaut vom Zuhören. Und schließlich schauen wir beide Hugo Berg einfach erwartungsvoll an. Der stellt ein paar Rückfragen, überlegt dann einen Moment, schließlich antwortet er.
„Danke für Ihre Offenheit. Ich greife jetzt dem Therapieprozess vor, weil Sie Klarheit brauchen. Ich habe das Gefühl, dass Sie das verarbeiten können, Antoine, denn Sie sind schon mit Maximilians eher laienhafter Unterstützung sehr weit gekommen. Der Wille zu leben, gut zu leben und diese falsche Last loszuwerden, ist ganz stark. Halten Sie sich immer daran fest, zu was Sie in dieser Woche alles in der Lage waren! Dass sich das als normales Lebensgefühl einstellt, das könnte Ihr Ziel sein.
Trotzdem: Es handelt sich um ein sehr altes Trauma, das über viele Jahre hinweg sorgfältig gefüttert und gehätschelt wurde und Sie von klein auf in ihrer Seele erniedrigt und gequält hat. Sie wollen das loswerden, das ist sehr gut so. Aber – je älter, desto hartnäckiger sind die daraus resultierenden Ausweichmechanismen und Ängste.
Ich glaube tatsächlich, dass ich sie lieber in einer Spezialklinik für Traumaarbeit sähe, als sie selbst neben der Schule ambulant zu behandeln. Für das, was da alles hochkommen kann, brauchen und sollten Sie sich einen geschützten Rahmen gönnen. Ich bin zum Beispiel auch froh, dass Sie hier jetzt nicht alleine sind sondern von Maximilian Gersten nach Hause begleitet werden können."
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Was sich neckt, das hasst sich
General FictionÄhhh - heißt das nicht eigentlich: "... das liebt sich" ??? Eigentlich ... Aber nicht, wenn ein notorischer Mathemuffel mit Hang zum verbalen Kahlschlag kurz vorm Abitur auf eine Lehrerin trifft, die mit Liebe zur Mathematik und einer ausgesprochen...