Mann, bin ICH froh, dass ich wieder trinken kann. Und sogar die Salzstangen sind drin geblieben. Mir ist noch genauso schwindelig wie vorher, aber ich fühle mich trotzdem jetzt stabiler. Ich bin auch nicht mehr so müde. Also plaudern wir eine Weile, Frau Süß sitzt im Schneidersitz auf dem Boden, und ich stopfe mir das Kopfkissen so zurecht, dass wir uns gut sehen und uns entspannt unterhalten können.
„Hoffentlich schafft Antoine das jetzt. Paul und Moritz sind willig, aber sie wissen fast nichts."
„Kannst du mir ein bisschen mehr erzählen?"
„Ja, jetzt kann ich das glaube ich. Antoine hatte eine kleine Schwester. Sie war fünf Jahre alt, als sie beim einem Unfall ums Leben kam. Er hat sich sofort schuldig gefühlt. Aber der Gau war dann, dass seine Eltern wegen Verletzung der Aufsichtspflicht angeklagt wurden und dabei die gesamte Schuld eiskalt auf ihren Sohn geschoben haben. Und er hat ihnen geglaubt. Der Achtjährige hat geglaubt, dass er seine Schwester umgebracht hat. Daraufhin hat er beschlossen, dass er nie wieder jemand anfasst, damit er nie wieder jemandes anderen Unglück werden kann."„Ahhh – deshalb die Berührungsängste. Lass mich raten – seine Schwester kam beim Sturz von einer Brücke ums Leben? So, wie er reagiert hat ..."
„Ja, genau. Sie balancierte auf dem Geländer, er hielt ihre Hand, das Geländer brach, und der Achtjährige konnte sie natürlich nicht halten. Sie fiel in den Wildbach, auf einen Felsen."
Frau Süß schnappt genauso nach Luft, wie ich es gestern Abend getan habe. Wir reden noch eine Weile darüber, und ihre Wut auf diese Eltern ist genauso groß wie meine.„Was machen die anderen denn jetzt ohne uns noch so?"
Die Süße erzählt mir etwas ausführlicher vom restlichen Programm für heute. Ich bin völlig hin und her gerissen zwischen „ich will dabei sein" und „ich wills gar nicht wissen". Auf einmal treffen sich unsere Augen, und mir bleibt fast die Luft weg.Hab ich echt noch nie hingeschaut?
Frau Süß hat leuchtend moosgrüne Augen.
WOW, sowas hab ich ja noch nie gesehen.
Ich kann mich gar nicht lösen von diesem intensiven Blick. Es fühlt sich seltsam an – und wunderkribbeligschön.Der endlos schöne Moment hat nur ein paar Sekunden gedauert. Schnell reißen wir uns voneinander los.
„Was schreiben Sie denn da so eifrig?"
Während meine Augen immer größer werden, erzählt sie mir, dass sie grade unsere Matheklausuren korrekturliest. Und dass ihre Kollegin dafür ist, mir die Zeit ab der missglückten Pippipause und die dazugehörenden, nicht vorhandenen Punkte nicht anzurechnen. Mit lautem Poltern fällt mir ein riesiger Stein vom Herzen. Ich schließe die Augen und atme tief durch.
„Gott sei Dank!"
Wir reden noch eine Weile über den ganzen Stress, und sie sagt mir, wie stolz sie auf mich ist.Das fühlt sich sooo gut an. Frau Süß ist ja ganz nah dran an meiner Misere, sie weiß nicht alles, aber vieles. Jenseits unserer ständigen Kabbelei mit Worten und des großen Missverständnisses am Anfang der Nachhilfe ist sie immer für mich da, stärkt mir den Rücken, kämpft in der Schule für mich, nimmt mich immer ernst und für voll. Dankbar schaue ich sie an. Auf einmal verhaken sich unsere Augen. Eine kribbelige Unruhe und Neugierde erfüllt mich plötzlich. Und schließlich gesellt sich noch ein Gefühl dazu – Glück.
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Was sich neckt, das hasst sich
General FictionÄhhh - heißt das nicht eigentlich: "... das liebt sich" ??? Eigentlich ... Aber nicht, wenn ein notorischer Mathemuffel mit Hang zum verbalen Kahlschlag kurz vorm Abitur auf eine Lehrerin trifft, die mit Liebe zur Mathematik und einer ausgesprochen...