Wincent
Auch fast drei Wochen nach Ende der Tour hatte sich meine Stimmung nicht unbedingt verbessert. Ich verkroch mich nach wie vor Zuhause und bemitleidete mich selbst. Ich hatte einfach keine Kraft und keinen Antrieb irgendetwas Anderes zu tun. Es brach mir das Herz, dass es Shayenne so fertig machte, dass sie mir nicht helfen konnte, aber ich konnte mir grad selbst nicht helfen. Ich musste da durch und irgendwann wird es vielleicht besser werden. Ich tat den ganzen Tag nichts, ich hatte kein Gefühl für Raum und Zeit mehr. Seit Tagen trug ich schon das gleiche Shirt und ich hatte keine Ahnung, wann ich das letzte Mal die Fenster in meiner Wohnung geöffnet hatte. Mum und Shayenne stellten mir regelmäßig etwas zum Essen vor die Tür, aber jedes Mal nahmen sie es unangerührt wieder mit. Ich versank in Erinnerungen an die Sommertour, weil aber auch 24/7 die Fotos davon über meinen Bildschirm flimmerten. Wie glücklich wir waren! Aber an Weihnachten musste ich mich wirklich zusammenreißen- für meine Mum, für Shayenne und für einen schönen Familienabend. Ich wollte das wirklich! Wie jeden Morgen hatte ich einen Kater, aber der wurde auch jeden Morgen milder. Fachleute würden wahrscheinlich sagen ich war zum Pegeltrinker geworden. Ich kippte mir schon in meinen Morgenkaffee einen guten Schuss Rum, um entspannter in den Tag zu starten. Ich öffnete alle Fenster in meiner Wohnung und ließ eiskalte Dezemberluft rein. Und Sauerstoff- viel Sauerstoff. Ich atmete ein paar Mal tief durch und ehrlich gestanden tat das ziemlich gut. Ich nahm mal wieder eine Dusche und so kalt wie das Wasser aus dem Hahn kam, hatte ich die wohl länger nicht genutzt. Aber ich wurde wach, und das war das Ziel. Woher ich auf einmal die Kraft herzauberte, aufzuräumen und das Chaos der letzten Wochen zu beseitigen, wusste ich nicht, aber es sah wirklich besser bei mir aus. Bevor ich mich auf den Weg zu meiner Mum machte, checkte ich meine Nachrichten ein letztes Mal- danach würde ich mein Handy an diesem Familienabend nicht mehr anrühren. Ich klickte die vielen Weihnachtswünsche durch, bis ich an einem Namen hängenblieb, der mich wieder völlig aus der Bahn warf. Emma? Ich setzte mich auf die Couch und zögerte, ob ich wirklich lesen wollte, was sie mir geschrieben hatte. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Mit zittrigen Fingern klickte ich auf ihren Namen und las ihre Nachricht, wieder und wieder.
E: Hey Wincent! Ich wünsche dir ein schönes Weihnachtsfest. Ich weiß, du liebst dieses Fest, also genieß es. Emma <3
War das ihr scheiß Ernst? Nach fast drei Wochen ist das das erste, was sie von sich hören lässt? Und dann gibt sie mir nicht mal die Möglichkeit zu antworten, weil sie mich schon wieder geblockt hat? Meine Gefühle überschlugen sich regelrecht. Das hatte doch was zu bedeuten, dass sie mir schrieb. Oder nicht? Aber sie wollte das nicht, oder sie konnte nicht, keine Ahnung. Aber ich war gerade zu labil, um eine logische Erklärung für diese Aktion herleiten zu können. Ich merkte schon, wie mich diese Nachricht ungefähr tausend Kilometer in meiner Entwicklung zurückwarf. Verdammte Scheiße, es ist Weihnachten! Ich will einen schönen Tag mit meiner Familie! Leck mich, Emma, ohne Scheiß. Und meld dich nicht bei mir, nur weil du gerade scheinbar einen sentimentalen Moment hast. Das hätte ich gern geschrieben, aber die Nachricht wäre eh nicht zustellbar gewesen, also schloss ich unseren Chat ohne eine Antwort wieder. Ich zog mich fertig an, kippte mir noch einen Shot in den Rachen um meinen Pegel zu halten, und dann machte ich mich auf den Weg zu meiner Familie. Sie würde so oder so riechen, dass ich schon getrunken hatte, also konnte ich mir den Kaugummi und das Parfum auch sparen. Ich vergrub mich in meiner Jacke und ging die paar Schritten zum Haus meiner Mutter. Das Auto meiner Großeltern stand schon in der Einfahrt, also war ich wohl mal wieder der Letzte. Ich atmete noch ein paar Mal tief durch und damit die schlechten Gedanken weg, bevor ich klingelte.
Ich setzte mein schönstes Lächeln auf, was ich gerade drauf hatte, als Shayenne mir die Tür öffnete. Sie grinste mich an und ließ sich in meine Arme fallen. Ich gab ihr einen Kuss auf ihr Haar und drückte sie fest an mich. „Du siehst beschissen aus, aber ich bin froh, dass du da bist", sagte sie. Vielen Dank dafür! „Ich freu mich auch", erwiderte ich. Ich zog meine Schuhe und meine Jacke aus und folgte Shayenne ins Wohnzimmer. Meine Mum und meine Großeltern sahen mich an und lächelten. Ich wusste genau, was in ihren Köpfen vorging, aber sie sparten sich jeden Kommentar. Das würde gerade nichts besser machen und irgendwie sollten wir doch diesen Abend genießen. Ich begrüßte meine Großeltern und zum Schluss meine Mum. „Schön, dass du gekommen bist", flüsterte sie mir ins Ohr. „Danke für Alles", antwortete ich nur und sah sie an. Sie strich mir durch die Haare und drückte mir einen Kuss auf die Wange. Sie wusste genauso gut wie ich, dass ich gerade am Arsch war. Aber für diesen Abend bemühte ich mich diese dunklen Gedanken weit weg zu schieben und je mehr Bier es gab, desto besser wurde das auch. Ich genoss diesen Abend mit meiner Familie und ich hatte das Gefühl, mein Herz würde ein bisschen heilen. Wir schauten klassische Familienfilme, spielten Karten oder redeten einfach nur. Und mir ging es gut dabei. Bis meine Großeltern gingen und Shayenne ins Bett verschwunden war, war es fast 3 Uhr nachts. Ich schlupfte gerade in meine Schuhe und wollte ebenso gehen, als mich meine Mum zurückhielt.
Ihr Blick war nicht mehr so euphorisch wie heute Abend, sie sah traurig aus und ängstlich irgendwie. „Was is, Mama?", fragte ich und setzte mich nochmal zu ihr an den Tisch. Sie stützte ihren Kopf in ihre Hände und ich wusste genau, dass sie versuchte ihre Tränen runterzuschlucken. Das gelang ihr leider so gar nicht, mit feuchten Augen sah sie mich an. „Ich mach mir Sorgen um dich, Wincent. Und ich hab Angst um dich. Du isst nichts, du trinkst nur. Du gammelst Zuhause rum und alles ist rabenschwarz. Egal, was ich tue, es ist nicht genug. Ich kann das nicht mehr mit ansehen, wie du leidest", redete sie auf mich ein und das war das erste Mal, dass das Jemand so zu mir sagte. Und das war ausgerechnet meine Mum. Ich wollte nicht, dass sie sich sorgte. Ich wollte ihr doch keine Angst machen. „Ich fang im Januar wieder an zu Arbeiten, dann wird es besser", erwiderte ich. Davon ging ich selbst auch noch aus. Wenn ich wieder eine Aufgabe hätte, wird es aufwärts gehen. Sie zog eine Visitenkarte aus ihrem Geldbeutel und schob sie mir rüber. „Bitte, lass dir helfen", sagte sie nur. Verwirrt sah ich die Karte an. Psychotherapeut? Ernsthaft? Ich war doch nicht krank. Mir schien nur gerade nicht die Sonne aus dem Arsch. Aber meine Mum glaubte das offensichtlich. „Mal sehen, okay?", sagte ich zu ihr. Mehr konnte sie wirklich nicht von mir erwarten. Sie zwang sich ein Lächeln auf und umarmte mich nochmal besonders lange, bevor sie mich gehen ließ. Das war das Letzte, was ich wollte. Dass sich meine Familie Sorgen um mich machte.
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Nur mit Dir
FanfictionDas hier ist der zweite Teil rund um Emma und Wincent. Es war schwierig mit den Beiden; dieser Pakt ihrer Freundschaft- plus, von der jeder sagte, dass es nicht gut gehen könnte. Und jeder sollte Recht behalten. Erst verliebt sich der eine, dann der...