Kapitel 56

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Wincent

Und wir warteten gefühlt eine halbe Ewigkeit. Ich war völlig unvorbereitet in diese Situation geschlittert und brauchte einen Moment, bis ich wieder bei klaren Gedanken war. Und wo wir jetzt eh schon zu zweit auf der Damentoilette waren, konnte ich auch mal meinen Standpunkt klar machen. „Weißt du, Emma, es fühlt sich komisch an, wenn du so völlig panisch reagierst", fing ich an und ich spürte, dass sie sich schon wieder verteidigen wollte. „Jetzt lass mich doch erstmal ausreden, Mensch", schob ich schnell nach und ging einen Schritt von ihr weg. „Jetzt mal unabhängig davon, dass wir nicht lange zusammen sind, ja, und das absolut nicht unser Plan für dieses Jahr war, okay, fände ich persönlich das jetzt keinen Weltuntergang", erklärte ich mich. Ich hoffte so sehr, dass mir die richtigen Worte einfielen und sie das nicht wieder komplett in den falschen Hals kriegte. „Aber wenn ich dich so sehe, so panisch und aufgelöst, weißt du wie sich das für mich anfühlt? Wenn deine Freundin, entschuldige, Verlobte, mit der du dir alles vorstellen kannst, so reagiert? Als wäre es das Ende der Welt jetzt ein Kind mit mir zu kriegen. Das tut mir weh, Emma", gab ich zu. 

Völlig entgeistert sah sie mich an. Ja, so hatte sie das Ganze offensichtlich noch nicht gesehen. „Wincent, ich...", fing sie an, bis ihre Stimme versagte und sie nochmal kurz durchatmete. „Ich war einfach nur überfordert. Wir hatten nie darüber geredet bisher. Ich kann mir das einfach zu dem jetzigen Zeitpunkt nicht vorstellen. Du hast so viel vor, WIR haben so viel vor, da passt ein Kind einfach nicht rein", erklärte sie sich. Sie hatte ja auch mit allem Recht, gerade in diesem Moment im November 2019 brauchte ich auch nicht unbedingt ein Kind, aber sie machte seit diesem Abend den Eindruck, als wäre eine Schwangerschaft ein Grund für Selbstmord. „Ich versteh dich, Emma, wirklich, ich will das jetzt in diesem Moment auch nicht, aber kannst du nicht auch ein bisschen meine Sicht verstehen? Dass sich das wirklich nicht gut angefühlt hat das zu hören?", fragte ich sie.

Emma schaute nur auf den Boden und zuckte mit den Schultern. „Es tut mir leid. Ich wusste nicht, dass das so bei dir ankommt...da hab ich nicht drüber nachgedacht. Meine Gefühle sind einfach so mit mir durchgegangen. Ich wusste nicht mal wie ich selbst darüber denken soll und dann kommst du mit diesem unbedarften ‚ja wenns jetzt so is, dann is es halt so'. Du hattest ne Meinung, bevor ich mir eine bilden konnte, und hast mich damit so in eine Richtung gedrängt, dass ich überhaupt nicht mehr klar denken konnte. Aber...", weiter kam sie nicht, dann riss uns der Timer aus unserem Gespräch. Emma stellte ihn aus und wir sahen uns einfach nur an. „Egal, was da drauf steht, ich bin bei dir", sagte ich. Eigentlich war es ja super unrealistisch, dass zu diesem Zeitpunkt etwas anderes als ‚nicht schwanger' auf diesem Test stehen könnte, aber die Emotionalität in dieser Situation ließ mich das ausblenden. Ich rechnete mit allem. Emma griff nach dem Test und drehte ihn ganz langsam um. 

„Nicht schwanger", las sie vor und ich hörte die Erleichterung in ihrer Stimme. Ich selbst wusste nicht, was ich fühlen sollte- irgendwie tat sich da gar nichts in meiner Brust. Weder Enttäuschung noch Erleichterung. Es war halt einfach nur ein Testergebnis um wieder normal miteinander umgehen zu können, dachte ich. „Okay", war alles, was ich darauf sagte. „Okay?", fragte sie nach. Ja, was sollte ich sonst dazu sagen? Ich atmete tief durch. „Ja, okay. Ich bin einfach nur froh, dass da jetzt was drauf steht. Das hat uns offensichtlich mehr belastet als gedacht...", hörte ich mich sagen. Gedanklich gab ich mir schon ne Ohrfeige, dass ich meine Klappe nicht halten konnte. Nicht dass wir jetzt wieder abdrifteten.

Emma kam auf mich zu und schlang ihre Arme um mich. Ihr Kopf ruhte auf meiner Brust und während sie mir über den Rücken strich entspannte ich mich auch wieder. „Weißt du, Wince, ich will das alles mit dir, aber nicht jetzt und nicht so ungeplant. Es tut mir leid, dass ich deine Gefühle so völlig hinten angestellt hab und nur mit mir beschäftigt war", flüsterte sie. „Jetzt hör auf, dich ständig zu entschuldigen. Lass uns das einfach abhaken, okay? Wir sind uns einig, dass das momentan nicht in unseren Lebensplan passt und alles andere sehen wir mit der Zeit. Aber bitte lass uns nicht mehr so schweigen, das is kacke", sagte ich und ich wunderte mich wo diese Worte herkamen. Ich wollte das Thema einfach nur für diesen Moment beenden. Ich hatte ne Tour zu spielen und wollte keinen privaten Stress, das konnte ich nicht gebrauchen. Emma sah zu mir hoch und lächelte mich an. „Ich liebe dich. Immer", erwiderte sie und streckte sich zu mir hoch um mich zu küssen. Mit jeder Sekunde, die dieser Kuss dauerte, entspannte ich mich mehr. Sie schob ihre Hände an meinen Rücken und ich merkte auch, wie sie lockerer wurde. 

Gerade als sie noch was sagen wollte, ging die Tür hinter mir schwungvoll auf und Manni stand im Türrahmen. „Ah, hier seid ihr...könnt ihrs mal wieder nicht bis nach der Show erwarten?", zwinkerte er uns zu. Emma rollte mit den Augen. „Tatsächlich ging es mal ausnahmsweise nicht darum...aber das Damenklo ist ja der einzige Ort, wo man mal länger als zwei Minuten Ruhe hat, wenn man was bereden muss", bluffte sie ihn an. Erst wies sie mir noch an bloß nicht mit irgendjemanden darüber zu reden, und jetzt machte sie Manni so offensichtlich blöd von der Seite an, weil wir was zu klären hatten? Bevor sie noch mehr sagen konnte, war sie aber wieder verschwunden und ließ uns fragend zurück. Ich winkte ab, als Manni anfangen wollte zu reden. „Frauenkram. Alles gut", gab ich nur von mir und verließ dann ebenso den Raum.

Ich zwang mich wirklich hinter das Thema einen Haken zu machen, alles andere brachte keinem von uns irgendwas. Und als ich wieder voll in meinem Job eingespannt war, klappte das auch erstaunlich gut. Emma verhielt sich auch wieder ganz normal, also hatte ich wirklich das Gefühl das Thema läge hinter uns. Wir spielten ne geile Show und als wir nachts im Bus saßen, war alles wie immer. Wir quatschten und blödelten rum, Paul sortierte die Fotos und Videos und Amelie verzog sich als erste ins Bett. Emma ging ihre Liste für den nächsten Tag durch und stieg dann recht schnell in unser Gespräch ein. Ich merkte, wie sie immer wieder mit ihrer Hand über meinen Oberschenkel strich, aber ich konnte darauf eben nicht eingehen. Ich griff nach ihrer Hand, als sie sie immer weiter nach oben schob. Als ich mich zu ihr drehte grinste sie mich an. „Gehen wir nach oben?", flüsterte sie mir ins Ohr. Ich versuchte mein Seufzen zu unterdrücken und deutete auf meine volle Bierflasche. „Geh schon mal vor, ich komm gleich", log ich. Tatsächlich hatte ich gerade wirklich keine Lust, und das stand mir auch mal zu. Und außerdem hatte ich das Gefühl sie wollte mich damit besänftigen, aber meine Güte, es lässt sich nicht über jedes Thema mit Sex hinwegtrösten. 

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