Freier Fall

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Lissa sah sich erstaunt in der Eingangshalle des Wolkenkratzers um. Dies war das Bürogebäude Hadals? Ein tiefschwarzer Fliesenboden, dessen Fugen so dunkel waren, dass man sie auf den ersten Blick übersah. Blutrote Ledersofas an schwarzen niedrigen Tischen für Besucher, die auf einen Termin warteten. Rote Blumenkästen mit schneeweißen Rosen säumten die Sitzecken, grenzten diese voneinander ab. Dem Mädchen lief ein Schauer über den Rücken. Die sich ewig wiederholenden Farbkombinationen, so geschmackvoll sie wirkten, strahlten eine eigentümliche, sie beunruhigende Energie aus.

„Folge mir, mein Herr erwartet uns." Cassandra dirigierte Lissa zu den gläsernen Fahrstühlen. Selbst der Boden war aus Glas. Das Mädchen schluckte. Höhenangst war ihr bisher fremd, doch ihre Begleitung drückte auf den Knopf des obersten Stockwerks. Allein der Gedanke, von dort hinunterzuschauen, drehte ihr den Magen um.

„Hätte ich bloß nicht so viel gegessen", murmelte sie. Das Frühstück im Hotel war reichhaltig, hatte sie mit seinen süßen und herzhaften Versprechen gelockt. In eine Falle, wie es ihr nun schien. Die Hände zu Fäusten geballt, bis die Fingerknöchel weiß hervortraten, starrte sie stur auf die Anzeige für die Stockwerke. Immer höher kletterten die Zahlen, bis sie letzten Endes auf der vierzig stehenblieben.

„Da wären wir. Warte hier kurz." Cassandra nickte einer jungen Frau, die an einer Art Rezeption neben den Aufzügen saß, freundlich lächelnd zu. Dann lief sie zu einer breiten schwarzen Tür, auf der ein Messingschildchen mit einem Namen prangte. Urian Hadal, Chief Executive Officer. Lissa schluckte. Weshalb wünschte der Geschäftsführer dieser riesigen Firma sie zu sprechen? Es war mit Sicherheit nur ein Missverständnis, redete sie in Gedanken beruhigend auf sich ein. Dennoch stellten sich die Härchen in ihrem Nacken auf. Der Mann schien im Club davon überzeugt zu sein, die Richtige vor sich zu haben.

„Träumst du?" Der leicht tadelnde Tonfall riss sie aus ihren Überlegungen. Cassandra tappte mit dem Fuß auf den pechschwarzen Teppichboden, wies ihr den Weg in den Raum. Zögernd setzte sie sich in Bewegung. Der dumpfe Schmerz hinter ihrer Stirn schwoll an. Wie von einer unsichtbaren Kraft angezogen wurde sie schneller.

„Guten Morgen Lissa. Ich freue mich, dass du es einrichten konntest." Urian Hadal stand von seinem Stuhl auf, umrundete den riesigen schwarzen Schreibtisch und streckte ihr zur Begrüßung die Hand hin. Zaghaft schlug sie ein. Sein Griff war warm und fest. Der intensive Blick, mit dem er sie bedachte, gab ihr abermals das Gefühl, in eine Falle getappt zu sein. „Ich hoffe du hast gut geschlafen." Er beugte sich vor, der Geruch seines Aftershaves hüllte sie ein. Ein schwerer Duft, Moschus womöglich. Er nahm ihr den Atem, so dass sie taumelte.

„Wie unachtsam von mir. Setze dich doch bitte." Hadal führte sie zu der blutroten Couch, nahe der Fensterfront. Ihr Magen verkrampfte sich. Die bodenlangen Fenster gaben zu viel preis. Die Autos unten auf der Straße wirkten nicht größer als Murmeln. Lissa schluckte, wandte den Blick zu dem Mann, der sich ihr gegenüber niedergelassen hatte.

„Dürfte ich erfahren, warum ich hier bin?" Sie benetzte ihre trockenen Lippen, senkte den Kopf und starrte auf den Tisch, der sie von dem Geschäftsmann trennte. Seine Augen glichen denen eines Raubtieres, das seine Beute fest im Blick hatte.

„Aber natürlich. Dafür habe ich dich eingeladen." Er zog einen roten Umschlag aus der Innenseite seines Jacketts. „Das College hat mir zugesichert, dass du die beste deines Jahrgangs bist und dementsprechend Praxiserfahrung eine schöne Erweiterung für dich wäre." Die Worte schmeichelten ihr. Sie zeichnete sich im Unterricht durch ihren Willen und ihre Lernfreude aus. Doch wieso interessierte er sich für sie, statt einen fertigen Graphikdesigner zu nehmen? Warum hatte er den Kontakt nicht über ihren Tutor laufen lassen? Was führte der Mann im Schilde? Sie krallte die Finger ins Sofa.

„Ich stehe erst am Anfang meiner Ausbildung", kam es zögerlich über ihre Lippen.

„Gerade deswegen habe ich dich ausgesucht. So kannst du unvoreingenommen an vier Tagen in der Woche in meinem Unternehmen unterstützend tätig werden. Bisher kümmert sich mein Sohn allein um das Graphikdesign, doch er könnte Unterstützung gebrauchen. Mit der Schule ist bereits alles geregelt. Dienstags und donnerstags College. Die restlichen Werktage und samstags bist du dann hier." Er reichte ihr den Umschlag. „Öffne ihn. Schaue ruhig nach, was es mir wert ist, dass du mit deinem Fleiß und deinem Willen meinen Sohn auf den rechten Pfad bringst."

„Ich weiß nicht, ob ich dafür die geeignete Person bin", stammelte sie, dennoch fummelten ihre Finger mechanisch an dem Kuvert herum, zogen die Karte heraus. Mit geöffnetem Mund starrte sie auf den Betrag, der ihr Monatsgehalt sein würde. Lissa sprang auf, taumelte zum Fenster. Unterschiedlichste Gefühle prasselten auf sie ein. Hitze, Kälte rasten abwechselnd durch ihren Körper. Das Jobangebot bedeutete dringend benötigte Hilfe für ihre Familie. Gleichzeitig riss es ihr den Boden unter den Füßen weg. Sie blinzelte einige Male schnell hintereinander, sah hinunter auf die Straße mit den winzigen Autos.

„Ich warte auf deine Antwort, Lissa." Die tiefe Stimme Hadals drang wie durch eine dichte Nebelwand zu ihr. Das dumpfe Pochen hinter ihrer Stirn kehrte zurück, schien sie zu zwingen, ihre Zustimmung zu geben. Zu einem Vertrag, der sie auf unbestimmte Zeit band. Ihre Sicht verschwamm. Sie verlor den Halt, stürzte im freien Fall in eine pechschwarze Tiefe.

Dem Tode zu naheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt