Ofenwarm

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„Er hat was?" Cassandras Stimme überschlug sich. „Das hat er nicht gewagt!" Schnaubend wie ein aufgebrachter Stier zerrte sie den breitschultrigen Mann, der vor ihnen in der Reihe zur Essensausgabe stand, am Ärmel. „Geh mal an die Seite, Andha. Wenn ich nicht sofort etwas zu essen bekomme, gibt es hier ein Blutbad." Er murmelte etwas Unverständliches, stellte sich gelassen auf ihren alten Platz. Lissa musterte ihn verstohlen. Wie alle männlichen Mitarbeiter, denen sie bisher begegnet war, war er hochgewachsen und unter seiner Kleidung zeichneten sich bis zum Zerbersten trainierte Muskeln ab. Doch das Auffälligste an ihm war sein Blick, der, obwohl der Mann alles zu beobachten schien, völlig desinteressiert wirkte.

„Andhaka ist für die Beleuchtung zuständig, damit wir nicht im Dunkel sitzen", erklärte Cassandra, wobei sie den nächsten Vordermann in die Rippen pikste. Dieser ignorierte sie völlig. „Versuche du es mal, Lissa. Chil ist manchmal ein wenig störrisch. Keine Ahnung warum."

„Unwissenheit ist mit der Dunkelheit vergleichbar. Für manche beruhigend, in ihr abzutauchen, ängstigt sie andere, die den Weg nicht erkennen." Andhakas monotone, uninteressierte Stimme brachte Lissa zum Gähnen.

„Entschuldigung", murmelte sie an ihre Begleiterin gewandt, tippte dem Mann vor ihnen auf die Schulter. „Dürften wir bitte vor? Cassandra scheint gleich eine ganze Kuh verspeisen zu wollen, um sich von ihren Mordgedanken abzulenken." Die Kollegen waren laut der jungen Frau solche Bemerkungen gewöhnt, und um nicht aufzufallen, übernahm sie die Ausdrucksweise.

„Das ist nichts Neues, meine Hübsche." Der Typ, der Chil hieß, wandte sich zu ihnen um, ein strahlendes Lächeln im ebenmäßigen Gesicht, das sie an Statuen griechischer Götter erinnerte. „Chil Gazi, zu Euren Diensten." Er verbeugte sich leicht, hielt dabei Augenkontakt. Etwas Lauerndes lag in seinem Blick. Ein Raubtier, das seine Beute anvisierte. Lissa schluckte, wich einen Schritt zurück.

„Lass die Kleine in Ruhe, Chil. Sie ist nicht deinetwegen hier." Andhaka drückte mit seiner riesigen Pranke sanft ihre Schulter. Die freundliche Geste stand im starken Kontrast zu seiner eisigen Stimme, die jegliche Monotonie verloren hatte. Der Mann schob sie mühelos vorwärts, an weiteren Wartenden vorbei direkt zum Beginn der Essensausgabe. „Flaga, gib den beiden Mädels etwas, bevor Cassandra austickt. Sie ist mal wieder sauer auf Donn", rief er der grauhaarigen Frau hinter dem Tresen zu, die kurz schmunzelnd zu der Genannten sah und dann ihren Blick auf Lissa heftete.

„Was hat der Gauner jetzt wieder angestellt?" In den ebenso grauen Augen funkelte es vergnügt. „Verratet es mir und ihr bekommt eine der Leckereien aus dem Ofen, die sonst den höheren Mitarbeitern vorbehalten sind."

„Sauer ist gar kein Ausdruck. Der Blödmann hat meine neue Kollegin beleidigt, sie als unfähig und überflüssig bezeichnet. Dabei trifft das eher auf ihn zu", fügte sie murmelnd hinzu.

„Lissa kann gern zu mir ins Büro kommen", tönte es von weiter hinten in der Schlange. „Ich weiß, wie ich solch hinreißenden Frauen zu behandeln habe."

„Halt die Klappe, Chil", erscholl es im Dreierchor. Flaga drohte ihm mit einer Suppenkelle, dann schüttelte sie seufzend den Kopf. „Männer, die machen immer nur Ärger. Halte dich von dem Tunichtgut fern, Mädchen." Die ältere Frau wandte die Aufmerksamkeit den Metallbehältern vor sich zu. „Nein, das auch nicht, das geht gar nicht. Entschuldigt mich bitte einen Moment." Sie verschwand durch eine Seitentür. Poltern, Klirren, Stille. Dann ein Fluch.

„Erster Tag und gleich eine Sonderbehandlung." Lissa drehte sich zu Andhaka um, der sie mit hochgezogenen Augenbrauen ausgiebig musterte. „Allerdings verstehe ich den Grund dafür. Jemand von edlem Wesen, der Dunkelheit ausgesetzt, dazu berufen, weise zu handeln." Das Mädchen zog die Nase kraus. Er sprach in Rätseln. Was bedeuteten seine Worte?

„Andha, hörst du bitte auf, sie zu verwirren?" Cassandra zog Lissa an ihre Seite, weg von dem schmunzelnden Mann.

„Da bin ich wieder." Flaga trug ein riesiges Tablett mit drei Tellern, auf denen etwas lag, das verdächtig nach Lasagne roch und aussah. Sie reichte sie an die drei Wartenden. „Ja, Andhaka, du bekommst heute auch was ab. Vorsicht, es ist heiß."

„Und was ist damit?" Er zeigte auf den Frühstücksteller, auf denen Gebäck lag.

„Den darfst du tragen. Aber wehe, du teilst nicht mit den Mädchen." Die ältere Frau hob drohend die Faust, dann wurde ihre Miene sanft. „Die Zimtschnecken sind ofenwarm. Lasst sie euch schmecken. Und jetzt ab mit euch. Ihr haltet mir den ganzen Verkehr auf." Lissa und Cassandra folgten ihrem Begleiter und dem Süßgebäck zu einem Ecktisch, von dem man ohne Mühe die Kantine überblickte.

„Ofenwarm, hm." Er grinste breit. „Dann sollten wir sie wohl zuerst essen. Was meint ihr dazu?" Die beiden Angesprochenen nickten, langten gleichzeitig zu. Der Duft nach Zimt lag in der Luft, verscheuchte den Ärger von zuvor.

Dem Tode zu naheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt