Mit leicht geöffneten Lippen lauschte sie den Worten Andhakas. Seit sie am frühen Nachmittag mit Donn aneinandergeraten und daraufhin aus dem gemeinsamen Büro geflüchtet war, schlenderte sie mit Andha durch den firmeneigenen botanischen Garten, der etwas außerhalb der Stadt lag. Die weitaus größte Fläche nahm der umfangreiche Kräutergarten ein, in dem sich Kräuter und Heilpflanzen aus allen Teilen der Welt tummelten. Plus eine nicht zu verachtende Abteilung mit Pflanzen, aus denen sich Gifte gewinnen ließen. Lissa schüttelte sich beim Gedanken an all die Tränke, die ihr Kollege voller Begeisterung aufgezählt hatte.
Jetzt führte er im Tropenhaus seinen schwindelerregenden Vortrag über insektenfressende Pflanzen, sogenannte Karnivoren, fort. Er erklärte mit glänzenden Augen die verschiedenen Beutefang-Strategien. Schlauchpflanzen, die mit einem süßlichen Geruch Insekten anlockten, die am glatten oberen Rand abrutschten und unten im Kelch landeten, wo sie ein Enzymcocktail auflöste. Die Härchen auf Lissas Armen stellten sich auf. Ob es an den Pflanzen lag oder an dem begeisterten Redner, sie wusste es nicht. Instinktiv sah sie sich zum Ausgang um. Wie schnell würde er es bemerken, wenn sie sich aus dem Staub machte?
„Wie du siehst unterscheidet man Schlauchpflanzen, Kannenpflanzen und Krugpflanzen dank ihrer Fanggefäße." Er wies auf die verschiedenen Formen im Terrarium. „Für die Haltung auf der Fensterbank eignen sie sich nicht. Sie benötigen eine sehr hohe Luftfeuchtigkeit. Lass uns weitergehen." Er zog sie mit sich, erzählte weiter.
„Und dann klappen sie zu." Andha klatschte seine riesigen Pranken aufeinander, verschränkte die Finger miteinander. Zur Demonstration wie eine Klappfalle, zu der die Venusfliegenfalle gehörte, funktionierte. Erst lockte sie die Beute mit ihren intensiv rot gefärbten Blättern an. Landeten kleine Fliegen darauf, lösten sie dabei den Schließmechanismus aus. Die Pflanze klappte zu. Borsten an den Rändern verhinderten, dass die Beute entkam. Lissa dachte unwillentlich an Hadal und seine Vorliebe für blutrot. Die Einladung in den Club und das rote Kleid waren das Lockmittel gewesen, um sie anzulocken. Danach, als er sie in seinen Klauen hatte, war die Falle zugeschnappt. Kalte Schauer rannen mit dem Schweiß, ausgelöst von der schwülen Wärme im Tropenhaus, um die Wette über ihren Rücken.
„Somit kommen wir zur dritten Art, den Klebfallen." Ihr Kollege legte einen Arm um sie, führte sie zu den nächsten Pflanzgefäßen. Spürte er, dass sie kurz davor stand, wegzurennen? Seine Hand lag entspannt auf ihrer Hüfte. Sie linste zu ihm hoch. Seine Augen waren verzückt auf eine Pflanze gerichtet. Sie folgte seinem Blick. Auf den Blättern standen tentakelähnliche Gebilde dicht beieinander. An den Spitzen dieser Tentakel hatten sich winzige Tropfen gebildet.
„Das ist ein zuckriges, klebriges Fangsekret. Insekten, die damit in Berührung kommen, bleiben kleben. Die Tentakel beugen sich dann darüber, verstärken den Haltegriff. Sie sondern Verdauungsenzyme ab, die die Beute zersetzen, um die darin befindlichen Nährstoffe herauszulösen." Er wandte sich Lissa zu. „Äh, vielleicht sollte ich meinen Vortrag beenden und dich stattdessen zurück zum Wohnhaus bringen." Andhaka fasste sie sanft am Arm und führte sie aus dem Tropenhaus. Die kühle Abendluft umschmeichelte ihr Gesicht, verscheuchte die Hitze und die Übelkeit, die sich langsam ihre Kehle emporgeschlichen hatte. Schweigend fuhren sie zurück, stiegen die Treppenstufen hinauf, statt den Fahrstuhl zu nehmen.
„Ich könnte dir noch einen Tee anbieten, wenn du mit zu mir kommen magst", schlug Andhaka verhalten lächelnd vor. „Ich habe etwas da, das den Kreislauf stärkt. Du siehst so aus, als könntest du es gebrauchen."
„Danke, aber ich glaube, ich lege mich lieber gleich hin." Lissa seufzte, zog ihr Zopfband aus den Haaren, die noch immer im Nacken feucht waren. „Oder erst eine Dusche, um den Tag von meinem Körper zu spülen." Sie spielte mit einer Haarsträhne. „Kann ich morgen mal dich bei deiner Arbeit begleiten?"
„Keine Lust darauf, mit Donn in einem Büro zu sitzen?" Andha nahm ihre Hand in seine, streichelte mit dem Daumen über ihren Handrücken. „Angst, dass er seine klebrigen Tentakel nach dir ausstreckt und dich festhält?"
„So verlockend süß ist er nicht, auch wenn er sich das vielleicht einbildet", brummte Lissa, befreite sich aus Andhakas Griff. „Lieber sitze ich bei Zagan in der Rechtsabteilung als beim Sohn vom Chef."
„Scheint ganz so, als ob unser kleiner Sonnentau seine Anziehungskraft verliert", gluckste der große Mann vor ihr. In seinen Augen glitzerte es vergnügt.
„Wie hast du ihn gerade genannt?" Lissa starrte Andha mit geöffnetem Mund an.
„Sonnentau. So heißt die Pflanze, die ich dir gezeigt habe. Die Klebfalle." Er führte die Hand unter ihr Kinn, drückte den Kiefer sanft mit einem Finger hoch. „Mache den mal lieber zu, sonst fängst du auch noch an, Fliegen zu fangen."
„Blödmann." Sie schob ihren kichernden Kollegen von sich, öffnete ihre Zimmertür.
„Bis morgen. An deiner Stelle würde ich noch etwas essen. Kannst dir ja was hochliefern lassen." Er verabschiedete sich und sie schloss die Tür hinter sich. Nach Essen stand ihr nicht der Sinn. Doch die Art, wie Andha gerade Donn bezeichnet hatte, gefiel ihr. Sonnentau. Eine Klebpflanze, die andere anlockte, um sie langsam aufzulösen. So wie der Sohn des Chefs langsam ihre Nerven zersetzte.
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Dem Tode zu nahe
ParanormalEin Mädchen - ein Job. Das Unternehmen? Rätselhaft bis skurril. Die Kollegen? Wie den Covern von Modezeitschriften entsprungen. Der Chef? Zwischen unheimlich und charmant. Der direkte Kollege ein Arsch und obendrein Sohn des Chefs. Was kann da schon...