Habenichts

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Lissa begleitete Donn auf seiner nächtlichen Tour durch den Park ihrer Kindheit. In dicke Kleidung eingepackt, stapften sie durch altes Laub, das den Weg bedeckte. Niemand hatte es für notwendig gehalten, hier aufzuräumen, einmal zu fegen. Das hing auch damit zusammen, dass viele Bewohner der nahegelegenen Häuser diese an Hadal verkauft hatten und weggezogen waren.

„Bald werden sie abgerissen", murmelte Lissa.

Donn warf ihr einen Seitenblick zu. Er begriff, woran sie dachte, ohne dass sie es direkt aussprach. „Ja. Dann können endlich die Bauarbeiten beginnen. Die Betreuer werden sich mit den Kindern zusammen um den Park kümmern. Deine Großmutter hat früher die Beete gehegt. Manchmal auch mit dir zusammen. Doch du bist meist abgehauen, wenn sie dir den Rücken zugedreht hat. Zur Wiese, dorthin hat es dich schon immer gezogen. Zwischen den Grashalmen und wilden Blumen hast du gespielt, bist oft genug eingeschlafen."

„Hast du mich etwa beobachtet?" Früher hätte sie es unheimlich gefunden, doch jetzt zeigten ihr solche Geständnisse, dass er schon damals auf sie aufgepasst hatte.

„Ich habe nur sichergestellt, dass du niemanden belästigt hast." Er lachte leise, als sie ihn beleidigt gegen den Oberarm boxte. „Du hast damals schon nichts von Trubel und vielen Menschen gehalten. Ich bewundere es, wie du mit dem Chaos in der Firma zurechtkommst."

„Da laufen ja auch keine Menschen herum. Nur Dämonen und, wie ich seit kurzem ja weiß, ein paar gefallene Engel." Sie seufzte. „Ich wünschte, wir hätten Luriel mitgenommen. Er hätte gut ins Team gepasst."

„Luriel im Callcenter? Da würde er lieber in einem Vulkan baden gehen. Wie du kann er Lärm und Enge nicht leiden. Den kann man eher im botanischen Garten einsetzen. Mit Kindern kommt er auch zurecht. Da stört ihn nicht einmal die Geräuschkulisse. Aber stundenlang telefonieren? Das jeden Tag? Da dreht mein alter Freund durch." Donn hielt an, sah hinauf zum Himmel. „Ich hoffe, es geht ihm gut dort oben. Ich wünsche ihm, dass er unbehelligt weiter durch die Gärten spazieren kann, doch ich fürchte, der Alte hat ihn nicht ungeschoren davonkommen lassen."

Lissa blinzelte ein paar Tränen weg, die sich, hervorgerufen von Donns Worten, einen Weg aus ihren Augen zu bahnen drohten. Es brachte nichts, wegen des Engels zu weinen, wenn sie nicht einmal wusste, was mit ihm war.

Das Smartphone ihres Freundes piepte. Leise fluchend betrachtete er die Position des blinkenden Punktes. „Nicht schon wieder", murrte er.

„Was ist?" Sie versuchte, einen Blick auf den Bildschirm zu erhaschen, doch ihr Freund steckte es grummelnd ein.

„Wieder ein Habenichts, der bei diesen Temperaturen keinen sicheren Schlafplatz hat. Ich bin es so leid, diese Menschen zu holen, die nichts mehr besitzen, um die niemand trauert. Die meisten von ihnen tun niemandem weh, kümmern sich nur um ihren eigenen Kram. Dieser hier ist nicht einmal alt. Anfang dreißig. Seine Frau hat ihn rausgeworfen, nachdem er seinen Job verloren hat. Dabei ist sie streng gläubig."

„Dass da oft Wasser gepredigt und Wein getrunken wird, wissen wir bereits." Lissa folgte Donn zu einer Parkbank, auf der eine Gestalt unter einer löchrigen Decke lag. „Ist er ansprechbar?" Sie sah, wie ihr Freund nach dem Puls des Mannes tastete, sich über ihn beugte und seine Atmung prüfte.

„Herzschlag ist schwach. Scheint schon unterkühlt zu sein." Donn brummelte leise. „Wenn er nicht bald ins Warme und obendrein medizinische Hilfe bekommt, bleibt mir nichts anderes übrig, als ihn zu holen. Immerhin bekommt er beim Erfrieren vom Sterben nichts mit. Es ist ein vergleichsweise friedlicher Übergang."

Lissa zog ihr Smartphone aus der Tasche und tippte die Nummer des Notrufs ein. „Ich möchte eine stark unterkühlte Person melden. Bitte schicken sie einen Krankenwagen." Sie nannte dem Rettungsdienst den Ort und steckte das Telefon wieder weg. „Du darfst zwar nicht helfen, aber mir hat es niemand verboten. Ich glaube, an Weihnachten sollte man jemandem eine zweite Chance geben."

„Und genau deswegen wollte der Himmel dich für einen seiner Generäle haben." Der Engel des Todes küsste sie sanft auf die Stirn. „Du hast ein reines Herz, Lissa, und ich bin glücklich, dass es für mich schlägt." Eng aneinander gekuschelt warteten sie auf den Rettungsdienst.

„Er wird es schaffen", teilte Donn ihr nach einem weiteren Blick auf den Bildschirm mit, als die Sanitäter ihn in den Rettungswagen geschoben hatten. „Ein Habenichts, der dieses Weihnachten im Warmen verbringen wird. Vielleicht können die Leute vom Krankenhaus ihm helfen, sein Leben wieder auf die Reihe zu bekommen. Dort, wo sie ihn hinbringen, gibt es Freiwillige, die sich Menschen wie ihm annehmen."

„Er ist jetzt kein Habenichts mehr", murmelte Lissa. Ihr Freund schaute sie verwirrt an. „Nun," erklärte sie ihren Gedanken, „er hat noch sein Leben und das Glück, dass der Tod Erbarmen gezeigt hat."

Dem Tode zu naheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt