Bommeln

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„Können wir nicht die Aktion abblasen?" Lissa schaute ihre Begleitung hoffnungsvoll an, doch statt einer Antwort wurde sie in das nächste Geschäft gezerrt. Seit drei Stunden rein in ein Bekleidungsgeschäft, diverse Kleidungsstücke anpassen und weiter zum folgenden Laden. Hätte sie ein Mitspracherecht, wäre nach dem zweiten Schluss gewesen. Doch ihre Meinung wurde völlig ignoriert. Mal wieder. Sie seufzte leise, sah sich verstohlen um. Das Gemeinste an der Sache waren die beiden Wachhunde, die ihnen auf Schritt und Tritt folgten; Andhaka und Chil.

„Nein, der Boss hat es so befohlen. Aus der Nummer kommst du nicht raus." Lange aschblonde Haare flogen ihr ins Gesicht, als ihre Begleiterin den Kopf schüttelte. „Und bevor du weiter quengelst, auch Cassandra würde dich nicht gehen lassen, bevor wir das perfekte Outfit für dich gefunden haben. Jetzt komm schon. Je eher wir es hinter uns bringen, desto eher kannst du mir dabei helfen, heiße Dessous auszusuchen." Die Frau zwinkerte ihr verschmitzt zu, lief voraus zu den Cocktailkleidern. Lissa folgte ihr innerlich fluchend. Warum ausgerechnet Lilith, bei deren Anblick sie die größten Minderwertigkeitskomplexe überfielen und zu ersticken drohten? Die Kollegin, deren Schönheit allen Männern im Unternehmen regelmäßig den Atem nahm. Auch heute sah sie umwerfend aus. Die ellenlangen Beine, die der kurze Bleistiftrock kaum verhüllte. Die megaschlanke Taille, extra betont von der eng geschnittenen Bluse. Sie würde selbst einen alten Kartoffelsack in ein hochmodernes Accessoire verwandeln.

„Ich verstehe nicht, wieso ich wieder Tischdame für Donn spielen soll", maulte Lissa. Hadal beorderte sie mittlerweile in regelmäßigen Abständen zu Geschäftsessen, weil er davon überzeugt war, dass sein Sohn sich durch ihren Einfluss besser benahm. Eine Täuschung, die ihresgleichen suchte. Angesichts von Geschäftspartnern verhielt der Quälgeist sich tadellos. Sowie sie dagegen allein mit ihm war, ging er zur Tagesordnung über und spielte seine Spielchen. Der Fakt, dass sie seit zwei Wochen im gleichen Gebäude wohnte, erleichterte es ihm ungemein. Sein Vater hatte darauf bestanden, dass sie einzog. Wie ein Hirte scharte er seine Schäfchen um sich.

„Träumst du?" Schlanke Finger krallten sich um ihren Oberarm, zerrten sie zu einem hohen Regal, an dem eine Vielzahl Cocktailkleider hing. Leuchtende Stoffe, die im Licht der Neonspots glänzten. Missmutig starrte Lissa auf die große Auswahl. Konnte sie nicht einfach ein Kleid nehmen, das sie bei einem anderen Termin getragen hatte? Wieso wurde sie dieses Mal zum Einkaufen geschickt? Zuvor hatte ihr immer jemand etwas zum Anziehen hingelegt. „Du träumst heute wirklich." Lilith schnaubte, tänzelte auf ihren hohen Schuhen davon wie eine zickige Stute. Der dicke Teppich dämpfte das Klackern, dennoch wurde Lissa das Gefühl nicht los, jeden Schritt ihrer Begleiterin zu spüren. Leichte Erdbeben, die den Boden erzittern ließen. Das Mädchen schüttelte den Kopf. Ihre Fantasie ging mit ihr durch wie eine Herde Wildpferde bei dem ersten Anzeichen von Gefahr. Blindlings zog sie ein Kleid hervor, stiefelte zur Umkleide.

„Können wir das hier nehmen oder zumindest endlich mal eine Pause einlegen? Meine Füße bringen mich noch um." Sie schob den Vorhang zur Seite, drehte sich einmal im Kreis vor ihrer Begleiterin.

„Richtige Farbe hat es schon mal." Lilith zupfte am blutroten Stoff, korrigierte den Sitz der Träger. Mit den Fingerspitzen fuhr sie Lissa durch die Haare, verwuschelte sie für mehr Volumen. „Ich finde, Locken würden dazu passen. Das kann Cassandra übernehmen. Genauso wie dein Make-up." Ihr Blick wurde sanfter. „Zieh dich wieder um. Es ist perfekt."

Nur wenige Minuten später liefen sie Richtung Kasse. Die Frau zückte eine Kreditkarte aus ihrer Clutch, lächelte dabei diabolisch. „Der Boss zahlt. Möchtest du vielleicht noch was mitnehmen?" Sie wies auf die Verkaufstische, die zur Mitnahme von Socken und Saisonartikeln einluden. Ein regenbogenfarbenes Etwas fiel Lissa ins Auge. Sie eilte hin, streichelte über die weiche Wolle. Tränen wallten auf.

„Könnten wir diese bitte auch kaufen? Meine Mutter hatte so eine, als ich klein war. Oma hatte sie gestrickt, bevor meine Mama geboren wurde, und die Mütze viele Jahre später an sie weitergereicht. Vor ein paar Jahren ging sie verloren. Ich gebe dir das Geld nachher wieder."

„Kein Problem." Lilith legte ihr eine Hand an die Wange, streichelte eine Träne weg. „Du brauchst es nicht zurückzuzahlen. Den Boss wird es nicht stören. Er ist ganz andere Beträge gewöhnt." Lissa schluckte. Für Hadal waren ein paar Dollar nichts Besonderes. Für sie war es dagegen vor wenigen Monaten noch undenkbar, einfach so eine Mütze für ihre Mutter zu kaufen. Sie strich abermals über die Wolle, schnipste gegen die Bommel, die obenauf wie eine dicke Erdbeere auf einem Eisbecher thronte. Sie hatte diese Art Pompons in ihrer Kindheit geliebt und versucht, sie aus Wollresten mit Hilfe von Pappscheiben selbst herzustellen. Sie schmunzelte. Zuerst waren ihre Bommeln immer auseinandergefallen, bevor die Großmutter ihr gezeigt hatte, wie man sie zusammenband. Ach Oma. Wenn diese doch nur sehen könnte, wie sich das Leben der Familie langsam aber sicher zum Guten änderte. Sie seufzte leise. „Was hältst du eigentlich davon, wenn wir gleich ein Eis essen gehen?" Ihre Begleiterin schlang einen Arm um sie. „Die Männer schicken wir aber vorher mit dem Einkauf zurück zur Firma", flüsterte sie verschwörerisch. „Vielleicht sollten wir uns dann auch noch eine Massage gönnen. Ich kenne da ein fantastisches Spa in der Nähe." Lilith zwinkerte Lissa vergnügt zu, die nicht anders konnte, als nickend zuzustimmen. Die Plackerei schien sich doch zu lohnen. Lächelnd legte sie die Mütze an der Kasse auf das Cocktailkleid, schmunzelte über die verwirrte Miene der Verkäuferin. Das Mädchen hatte zu Anfang ihre Bedenken gehabt, dass sie mit der aschblonden Frau statt mit Cassandra losziehen sollte. Doch ihre Bedenken schmolzen wie ein Eis in der Sonne. Vielleicht hatte ihre Mutter ja doch recht, dass sie ein Glückskind war.

Dem Tode zu naheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt